Direkt nach dem Putsch berichtet ein Augenzeuge von Erdogans erstem großen Auftritt:
„Eine gefühlte Ewigkeit lang bleibt Erdogan so stehen, während die Menge skandiert: ‚Hier die Armee, hier der Kommandant‘. Oder: ‚Sag es und wir töten, sag es und wir sterben.‘ Und immer: ‚Allahu Akbar!‘ – ‚Gott ist groß!‘“. (Quelle: welt.de)
In der Türkei erleben wir eine zweite islamistische Machtergreifung, die vermutlich der in Iran oder Pakistan in nichts nachsteht. Überraschend kommt davon aber nichts.
In meinem Blog „Die Türkei ist eine einzige große Enttäuschung“: Ist Erdogan immer Islamist geblieben oder wieder zum Islamismus zurückgekehrt?, auch eine Lehre über die Blauäugigkeit von Politikern und Kirchenführern, vom 29.1.2015 schrieb ich:
„Viel spricht dafür, dass Erdogan im Herzen immer das geblieben ist, was er als Bürgermeister von Istanbul einst war und dass er den Islamismus eben nur mit einer langfristigen Strategie viel geschickter implementiert, als etwa der ungeschickte ägyptische Kurzzeitpräsident Mursi, der die Umsetzung des Islamismus in fünf Minuten über’s Knie brechen wollte und darin an der Armee scheiterte, die Erdogan erst einmal Schachmatt setzte, bevor er durchstartete.
Jedenfalls ist Erdogans System inzwischen so korrupt wie alle islamistischen Systeme. Es stellt absurde Forderung, wie Osmanisch in der Schule, obwohl Erdogan es selbst nicht spricht. Es hat absurde Ziele, wie die Wiederherstellung des Osmanischen Reiches – bedrohlich für alle Nachbarstaaten! Es zwingt religiöse Gebote allen Bürgern der Türkei auf. Der Rechtsstaat macht Platz für Korruption, Richterschaft und Polizei sind am Gängelband eines Machtherrschers.
Erdogan war als Jugendlicher Mitglied der militanten türkisch-islamistischen Untergrundorganisation Akincilar Dernegi. Seit 1970 hatte er Führungsrollen in allen islamistischen Parteien, die einander aufgrund von Verboten bis zur Gründung der AKP 2001 ablösten. Als Oberbürgermeister von Istanbul (1994-1998) vertrat er offensiv eine islamistische Politik. Es gab nach Geschlechtern getrennt Schulbusse oder ein Alkoholverbot in städtischen Einrichtungen. 1994 beschrieb er die EU als Vereinigung von Christen, in der die Türkei nichts zu suchen habe. Man könne nicht zugleich Muslim und laizistisch gesinnt sein. 1998 wurde er zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, weil er in einer Rede zustimmend folgendes Gedicht zitierte: „Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind. Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten.“
Hätte man das nicht alles wissen können? Bei aller Bereitschaft anzuerkennen, dass Menschen sich ändern können: Hätte man nicht wenigstens ein bisschen im Hinterkopf behalten sollen, dass Erdogan als Islamist startete und die ersten Anzeichen von islamistischem Zungenschlag vor Jahren nicht auf diesem Hintergrund verstehen können und müssen? Und hätte man das nicht bei einem nichtmuslimischen Politiker immer und fortlaufend offen diskutiert?
Aber gleich, ob der Traum je eine Chance hatte oder Erdogan nur ein geschickter Taktiker mit langem Atem war: Fakt ist: der Traum ist ausgeträumt und unter Präsident Erdogan versucht die Türkei, sich als Wortführer aller Muslime, auch der gewaltätigen, zu positionieren – in direkter Konkurrenz etwa zum Iran oder Saudi Arabien: Die Türkei ist nicht mehr ein Teil der Lösung für die Gewalt im Nahen und Mittleren Osten, sie ist Teil des Problems geworden. Realpolitik muss das nüchtern in die Kalkulation einbeziehen.
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