Vieles von dem, was ich vertrete, wird seit etwa zehn Jahren zunehmend als ‚missional‘ anstelle des älteren Begriffes ‚missionarisch‘ bezeichnet (Engl.: ‚missional‘ vs. ‚missionary‘). Das ist nicht ganz zufällig, denn bei fast allen Befürwortern des Ausdrucks ‚missional church‘ werden als Anreger und älteste Vertreter Leslie Newbigin und David Bosch genannt, die beide dem Begriff ‚Missio Dei‘ sehr nahe standen. Stefan Schweyer führt das Konzept ‚missional‘ direkt auf das ‚Missio-Dei‘-Konzept zurück.1

Allerdings wird der Begriff ‚missional‘, für den bisher die ältesten Belege aus den Jahren 1883 oder gar 1814 nachgewiesen wurden,2 von einer enormen Bandbreite von Vertretern propagiert und zudem haben natürlich auch früher viele unter ‚missionarisch‘ nicht die organisierten Aktivitäten von Missionsgesellschaften und Kirchen verstanden, sondern umfassender das ‚missionarische Wesen‘ der Kirche an sich, die sich ganz auf die Gesellschaft einlässt und diese transformiert, also genau das, was ‚missional‘ unterstreichen soll.

Es ist natürlich schlecht, eine Unterscheidung zwischen ‚missionarisch‘ und ‚missional‘ in Jahrzehnte zurück zu transportieren, in denen der Begriff ‚missional‘ gar nicht zur Verfügung stand oder heute jeden abzuqualifizieren, der noch den Begriff ‚missionarisch‘ verwendet. Und mag auch die Praxis oft schlechter gewesen sein: Wer von einer ‚missionarischen‘ Kirche sprach, meinte in der Regel das Wesen der Kirche, nicht die Werbung für eine Großorganisation.

Wenn etwa Reggie McNeal in seinem Buch ‚Missional Renaissance‘3 ankündigt, dass mit der missionalen Kirche ein neues goldenes Zeitalter anbricht, der größte Aufbruch seit der Reformation („The rise of the missional church is the single biggest step development in Christianity since the Reformation.“4), und typisch amerikanisch alles in Superlativen ausmalt („The shifts are tectonic.“5), würde ich doch empfehlen, eher das Urteil der nächsten Generationen abzuwarten, ob sich wirklich Grundlegendes verändert hat oder nur ein Name. Man mag das Buch als typisch amerikanische Marktschreierei verbuchen: Jetzt wurde das Entscheidende entdeckt, alles früher war nur Vorgeplänkel, aber das ändert an dem enthaltenen Hochmut wenig.

Und dann wird der Scheck nicht eingelöst. Ein typischer Beleg ist die Zusammenfassung am Ende,6 in der als herausragendes Beispiel für missionales Handeln eine Gruppe vorgestellt wird, die 10 Mio. $ für Hungernde gesammelt und 250.000 Jugendliche zu ehrenamtlichem Engagement motiviert hat. Kein Wort über die Hungernden, kein Wort, welche Veränderungen nachhaltig bewirkt wurden, kein Wort über sündige Strukturen, die den Hunger bewirken. Einfach nur ein Programm, das vor allem mit Geld und Zahlen prahlt, aber vermittelt: So gut wie wir war bisher noch niemand. Und das soll etwas noch nie da Gewesenes sein?

Wenn es etwa heißt, zentrale Aufgabe sei es, endlich statt der Frage, was die Kirche ist, die Frage zu stellen, wer sie ist,7 so ist das eine typisch westliche, ja englische Wortspielerei, die weder biblisch-exegetisch begründet werden kann, noch der Realität der, oft unter bitterer Verfolgung, wachsenden Kirchen im Globalen Süden entspricht. Hier wird die Mission wirklich mit dem Leben identisch. Und historisch ist die Aussage ebenfalls Unsinn, wenn etwa Calvin Gemeinde als die Gemeinschaft der Glaubenden definiert, also kein Was in Strukturen, sondern ein Wer von Menschen vorgibt. Auch die Aussage „The missional understanding of Christianity is undoing Christianity as religion“8 klingt natürlich gewaltig und hätte vielleicht noch etwas für sich, wenn McNeill erklären würde, was er unter ‚Religion‘ versteht (z. B. geistloses Christentum, Namenschristentum, mit Karl Barth von Menschen hervorgebrachtes Christentum), aber so bleibt der missionale Lebensertrag gleich null.

Immerhin möchte ich positiv vermerken, dass dem Buch zwar jede exegetische oder theologische Grundlegung fehlt, McNeal aber keine Auflösung der klassischen christlichen Theologie möchte, also kein Programm für Privattheologien fördern möchte.

„The church has the apostolic function of exercising doctrinal oversight.“9

Allerdings werden Kirchen und ihre Mitarbeiter nicht mehr in ihrem Wesen als Gemeinde Jesu wahrgenommen, sondern nur noch nach ihrem Nutzwert für das neue Programm befragt.10 Dafür jedenfalls beruft sich McNeill zu Unrecht auf das Missio-Dei-Konzept, auf David Bosch und Leslie Newbegin.11

Auch wenn heutzutage vor allem die in sich wieder sehr unterschiedlich ausgeprägte ‚Emerging Church‘-Bewegung den Begriff ‚missional‘ als Markenzeichen verwendet und den inkarnatorischen Charakter aller Mission und Gemeinde betont, ist daran zu erinnern, dass der wohl früheste wichtige Vertreter des Begriffs Tim Keller ist,12 ein reformierter Pfarrer einer innovativen Gemeinde in New York, der Redeemer Presbyterian Church, die mir theologisch sehr nahe steht.13 Und der Lutherische Weltbund verwendet ebenfalls den Begriff ‚missional‘ in seiner Missionserklärung (2004, dt. 2005)14 und schreibt:

„Mission ist das Wesen der Kirche, nicht nur eine Tätigkeit der Kirche neben anderen. Das ist die Grundaussage der Erklärung ‚Mission im Kontext‘ des Lutherischen Weltbundes.“15

‚Missional‘ bedeutet mittlerweile Vieles und zum Teil Gegensätzliches. Die einen verstehen unter ‚missional‘ eine Kirche, die sich inkarnatorisch ganz ihrer Umwelt anpasst, die anderen genau das Gegenteil, eine Kirche, die als alternative Gemeinschaft einen Gegenentwurf zur Gesellschaft bietet. Die einen verstehen ‚missional‘ als eine postmoderne Flexibilität in Lehrfragen zugunsten realer Beziehungen zu Menschen, die anderen betonen gerade, dass ‚missional‘ ein orthodoxes Verständnis der Mission Gottes in Christus voraussetze, das eben dazu führe, dass alles ins Licht dieser Mission gestellt und ihr untergeordnet werde.

Ich möchte es einmal so sagen: Während ich sehr zurückhaltend bin, dass ein neuer Begriff allein schon irgendetwas neu macht und ich selten in der Literatur, die für ‚missionale‘ Gemeinden eintritt, etwas finde, was nicht seit Jahrhunderten gut und richtig gesagt wurde, ist mir der Inhalt dessen, was unter ‚missional‘ verstanden wurde, sehr sympathisch und ganz im Einklang mit den Überlegungen dieses Buches: Mission ist keine Aktivität unter anderen, sondern macht das Wesen Gottes und damit seiner Gemeinde aus, das uns einzeln und in Gemeinschaft prägen will und sich von der Inkarnation des Gottessohnes durch die Umkehr und innere Transformation des Einzelnen in immer größeren und sichtbareren Kreisen bis zur Transformation der gesamten Schöpfung hinzieht. Mein Beitrag „Das biblische Mandat, die Welt zu retten – innerlich wie äußerlich – ganz privat und ganz global“ in dem Buch mit dem bezeichnenden Titel ‚Transformierender Glaube‘ belegt dies gut.16 Wenn etwa David Putman ausführlich beschreibt, wie man ein ‚Missional Follower of Jesus‘17 wird, kann ich dem nur zustimmen. Wenn ich auch den Unterton der Abgrenzung gegenüber früheren Auffassungen nicht nachvollziehen kann, ist das Ganze doch nur eine etwas umformulierte Fassung dessen, was Pietisten in ihren Büchern über ‚wahre Heiligung‘ schrieben oder was in den 1960er Jahren unter ‚wahrer Jüngerschaft‘ verstanden wurde.

Francis M. DuBose schrieb bereits 1983 in seinem Buch über den sendenden Gott:

„Mission als Sendung zu verstehen hat uns gelehrt, dass Mission nicht eine Art von christlichem Werk ist. Vielmehr ist sie das Werk Gottes. Deswegen ist sie unser Werk, die Berufung unseres Lebens …“18 

Und auch umgekehrt:

„Es gibt keine Berufung zu einem christlichen Leben und Engagement geschieden vom Ruf zur Mission.“19

Den „12 Thesen zur missionalen Theologie“20 des IGW Zürich etwa, die auf Polemik gegen andere verzichten und einfach nur beschreiben, wieso Theologie nur als missionarischer Aufbruch verstanden werden kann, kann ich vollumfänglich zustimmen. Sie stimmen etwa mit meinen 30 Thesen „Biblische Grundlagen evangelikaler Missiologie“ von 1994 völlig überein,21 die zu einer Zeit verfasst wurden, als der Begriff ‚missional‘ noch nicht en vogue war.

Emil Brunner hat den missionalen Leitgedanken 1931 treffend so ausgedrückt:

„Missionsarbeit erwächst nicht aus irgendeiner Arroganz der christlichen Kirche; Mission ist ihre Begründung und ihr Leben. Die Kirche besteht durch Mission, so wie Feuer durch das Brennen am Leben bleibt. Wo es keine Mission gibt, gibt es keine Kirche; und wo es weder Kirche noch Mission gibt, gibt es keinen Glauben. Es ist zweitrangig, ob wir darunter Mission in anderen Ländern meinen, oder einfach die Verkündigung des Evangeliums in der Heimatgemeinde. Mission, die Verkündigung des Evangeliums, heißt das Feuer auszubreiten, das Christus auf die Erde geworfen hat. Wer sich nicht für dieses Feuer einsetzt, beweist, dass er selbst nicht brennt. Wer brennt, setzt sich für das Feuer ein.“22

 

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Fußnoten:

1 Stefan Schweyer. „Kirche als Mission: Einsichten und Ausblicke zum Konzept der ‚missional church‘“. 2 Teile. Theologische Beilage zur STH-Postille 3/2009 und 2/2009. 8+6 S.; dieselbe Aussage in http://en.wikipedia.org/wiki/Missional, Fassung vom 7.7.2010. Francis M. DuBose. God who Sends: A Fresh Quest for Biblical Mission. Nashville (TN): Broadman, 1983, ein Klassiker der trinitarischen Sendungsbegründung, spricht S. 103 von „The missional call common to all Christians … “ und S. 110 von „The Missional Meaning of Worship“.

2 C.E. Bourne. The Heros of African Discovery and Adventure. Vol. 2: From the Death of Livingstone to the Year 1882. London : Swan Sonnenschein, 1886. Zu früheren Quellen siehe die Diskussion unter http://tallskinnykiwi.typepad.com/tallskinnykiwi/2008/01/missional-first.html.

3 Reggie McNeal. Missional Renaissance: Changing the Scorecard for the Church. San Francisco (CA): Jossey-Bass, 2009.

4 Ebd. S. xiv.

5 Ebd. S. xiv.

6 Ebd. S. 177.

7 Bed. S. 148: „We need to change the conversation about the church from ‘what is it?’ to ‘who is it?“

8 Ebd. S. xiv.

9 Ebd. S. 150.

10 Ebd. S. 148–152.

11 Ebd. S. 21–24.

12 http://en.wikipedia.org/wiki/Missional, Fassung vom 7.7.2010, schreibt Tim Keller den größten Einfluss für die Verbreitung des Begriffs zu.

13 Siehe vor allem „The Missional Church“ von 2001. Alle Veröffentlichungen und Predigten von Tim Keller listet
http://www.stevekmccoy.com/reformissionary/2005/07/tim_keller_arti.html. Eine deutsche Übersetzung ist als „MBS-Text“ in Vorbereitung.

14 Vgl. Jürgen Quack. „Verwandeln, Versöhnen, Bevollmächtigen – Der Auftrag der Kirche in der Welt: Zur neuen Missionserklärung des Lutherischen Weltbundes“. Interkulturelle Theologie 34 (2008): 305–324, S. 313–314.

15 Ebd. S. 305.

16 „Das biblische Mandat, die Welt zu retten – innerlich wie äußerlich – ganz privat und ganz global“. S. 19–34 in: Andreas Kusch (Hg.). Transformierender Glaube. Korntaler Reihe 5. VTR: Nürnberg, 2007.

17 David Puman. Breaking the Discipleship Code: Becoming a Missional Follower of Jesus. Nashville (TN): B&H, 2009.

18 Francis M. DuBose. God who Sends: A Fresh Quest for Biblical Mission. Nashville (TN): Broadman, 1983. S. 102.

19 Francis M. DuBose. God who Sends. a.a.O. S. 103.

21 „Biblische Grundlagen evangelikaler Missiologie: 30 Thesen“. Evangelikale Missiologie 10 (1994) 4: 112-120, seitdem vielfach abgedruckt und übersetzt. Fassung in Deutsch, Niederländisch und Englisch als MBS-Texte 55, 64 und 65 zum Download unter https://www.bucer.de/ressourcen/mbs-texte.html.

22 Emil Brunner. The Word and the World. London: Student Christian Movement Press, 1931. S. 108.

 

4 Kommentare

  1. alec johnston sagt:

    Is in your opinion the ministry of the Apostle Paul as recorded in the New Testament, using your definitions, missionary or missional?

  2. Thomas Schirrmacher sagt:

    Missional

  3. Thomas Meyer sagt:

    Sehr geehrter Herr Professor,
    ich bin hier spät und vielleicht auch zu spät, aber dennoch
    gut gebrüllt. Sie machen es so richtig schön rund, damit wir klar wird, dass wir auch nicht wirklich etwas zur Mission dazutun können, was nicht mit Christus schon angelegt war. Egal wie wir es nun nennen. Vielleicht neigen wir zu Wortspielen, weil wir sonst nicht deutlich machen können, dass wir es auch begriffen haben aber aus einer anderen Zeit kommen. Wenn dann „missional“ lange genug im Disput abgenutzt wurde, finden wir bestimmt wieder eine neue Variante. Ich neige dazu Wörter zu nehmen, die sprachlich aus der jeweiligen Zeit kommen und erst einmal vermeiden, in die alten Denkschablonen zu rutschen. Es ist ja nicht einfach, wenn Leute von der Kirche plötzlich nicht mehr so denken sollen, wie sie geprägt worden sind. Daran wird deutlich, dass auch die Begriffsklärung schon die Gefahr in sich trägt, wieder nur Nabelschau zu sein. Kann es sein, dass uns 500 Jahre Protestantismus die Fähigkeit geraubt haben, theologische Erkenntnisse einfach als „neues“ (endlich entdecktes- es war schon immer da- und darum so alt, wie die anderen) Teil eines Puzzles wahrzunehmen und es an die anderen (in der Regel dogmatisch eingeordneten Teilen) anzufügen. Dann verlieren wir uns nicht in den Versuchen, es intensiv von den Bisherigen abzugrenzen, sondern erkennen fröhlich an, dass wir einen kleinen Schritt weitergekommen sind mit dem Puzzle der Missio Dei in unserer real-existierenden Welt. Wenn wir uns dann als Teil des Ganzen erkennen, verlieren wir nicht so viel Energie darin, den anderen zu sagen, das es nichts Neues unter dem Himmel gibt. Lädt uns Gott nicht ein, Franchising zu machen. Das hier zuerst ein wirtschaftlicher Beigeschmack entsteht, soll nicht hinderlich sein. Haben wir nicht schon immer Worte so lange benutzt, bis sie nur noch christlich verstanden worden. In diesem Sinne ein fröhliches Theologisieren! Th.Meyer

  4. Matthias Braun sagt:

    Ich finde den Begriff „missionale Gemeinde“ hilfreich, um mit Leslie Newbigin endlich zu kapieren, dass Mission nicht außerhalb der Gemeinde stattfindet oder als Aktivität oder Programm, sondern dass das Wesen der Gemeinde missionarisch ist auf allen Ebenen unseres Seins und hiermit jedes Christen.
    Besonders der frühe Pietismus hatte das gut kapiert.
    Somit ist es für mich ein Begriff, um Altes, schon da gewesenes neu zu fassen.
    Hier kann man gut die Begriffsgeschichte nachvollziehen.
    Hier wird sichtbar, dass Tim Keller eher das Gesicht, aber weniger der Ursprung der Gedanken war:
    https://religiousaffections.org/articles/articles-on-church/a-brief-history-of-the-missional-church-movement/

    Ich finde zwar gut, darzustellen, wie der Begriff missbraucht wird.
    Weit gewichtiger finde ich aber die Definition des Begriffs von den Vertretern, die den Begriff maßgeblich theologisch fundiert geprägt haben: https://faithconnector.s3.amazonaws.com/necollaborative/files/missional_manifesto.pdf?r=57648920

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