Interview von Ken Chitwood in Deutschland (Christianity Today)
Fragen und Antworten mit Thomas Paul Schirrmacher über das Problem anstößiger öffentlicher Skulpturen und darüber, wie Christen dazu kamen, böse Verschwörungstheorien über die Juden zu akzeptieren.
Eine Skulptur vor einer Kirche in Wittenberg, in der Martin Luther einst predigte, zeigt drei kleine Menschen mit spitzen Hüten, die Juden darstellen sollen, die an den Zitzen eines großen weiblichen Schweins saugen. Eine vierte Figur steht hinter der Sau, hebt den Schwanz des Schweins an und schaut auf seinen Hintern.
Das obszöne und bizarre Bild ist seit mindestens 1290 dort zu sehen. Luther äußerte sich im 16. Jahrhundert anerkennend über die Judensau. Und seit 2018 kämpft ein zum Judentum konvertierter Deutscher vor Gericht für die Entfernung der Skulptur.
Die Regierung brachte in den 1980er Jahren eine Gedenktafel an, auf der erklärt wurde, dass die Skulptur und ähnliche Skulpturen in ganz Deutschland Teil der antisemitischen Geschichte des Landes seien und Juden beleidigen und entfremden sollten.
Michael Düllmann, 79, ist der Meinung, dass dies nicht ausreicht.
„Die jüdische Sau ist ein Aufruf zum Mord und nicht nur eine Beleidigung“, sagte Düllmann dem deutschen Sender ARD. Er möchte, dass sie in ein Museum gebracht wird.
Am 14. Juni entschied der Bundesgerichtshof jedoch, dass die Skulptur bleiben kann. Laut dem obersten Gericht schafft die Erklärungstafel eine ausreichende Kontextualisierung, um der ansonsten beleidigenden Darstellung von Juden durch das Relief entgegenzuwirken. Der Kläger zog daraufhin vor das Bundesverfassungsgericht, das im August 2024 entschied, die Beschwerde nicht anzunehmen. Düllmann klagte dagegen im November 2024 beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.
CT sprach mit Thomas Schirrmacher über den Gerichtsprozess, die Kontroverse um die Skulptur und darüber, wie deutsche Evangelikale mit der Geschichte des Antisemitismus umgehen.
Was ist Ihre persönliche Meinung zu der Skulptur?
Heutzutage halte ich es für unmöglich, sie einfach so zu belassen, wie sie sind. Mein Vorschlag lautet wie folgt: Die Originale in Museen ausstellen, mit Repliken irgendwo in der Kirche unter Glas, und dafür sorgen, dass sie an beiden Orten von soliden pädagogischen Texten begleitet werden.
Am ursprünglichen Standort sollte ein Foto des Kunstwerks mit einer kurzen Erklärung und einem Hinweis darauf, wo sich das Original jetzt befindet, angebracht werden. Wenn die örtliche Denkmalschutzbehörde die Entfernung nicht genehmigt, sollte das Kunstwerk mit einem gut sichtbaren Erklärungstext versehen werden.
Können Sie erklären, wie es dazu kam, dass Antisemitismus buchstäblich in deutsche Kirchen eingemeißelt wurde? Welche Geschichte hat der Antisemitismus im europäischen Christentum?
Leider wurden der Antisemitismus – oder genauer gesagt der Rassismus gegen Juden und die Verschwörungstheorien, dass Juden hinter den meisten oder allen Übeln steckten – seit dem zweiten Jahrhundert allmählich in die christliche Theologie eingebaut. Dazu gehörte nicht nur die Diskriminierung und Verfolgung von Juden, sondern auch – was man in keiner anderen Form von Rassismus findet – ein verschwörerisches Element: nämlich, dass die Juden den Sohn Gottes getötet hätten. Der Begriff, der verwendet wurde, war „Gottesmörder“, den sogar Hitler verwendete. Demnach haben die Juden den Sohn Gottes getötet und damit das Böseste in der Geschichte getan und sind daher auch an allen anderen Übeln mitschuldig.
Exegetisch ist diese Behauptung Unsinn. Die Evangelien berichten, dass die Führer der Juden die Römer aufforderten, ihn zu töten, und dass diese Führer gespalten waren, wobei die Mehrheit der Sadduzäer gegen Jesus war und die Mehrheit der Pharisäer nicht gegen ihn war oder später oft sogar für ihn war.
Wie führte dieses Vermächtnis zum Bau von Statuen wie der „Judensau“ und ihrer anhaltenden Präsenz an deutschen Kirchen?
Dieser Antisemitismus hätte mit der Reformation enden sollen, als die hebräischen Studien des Alten Testaments wiederbelebt wurden. Der lutherische Flügel der Reformation trug jedoch zur antisemitischen Theologie bei, indem er argumentierte, das Alte Testament sei jüdisch und legalistisch, und versuchte zu beweisen, dass die Katholiken wie die Juden seien und daher im Unrecht.
Dieser theologische Antisemitismus fand seinen liberalen Ausdruck in der Sichtweise der höheren Kritik auf das Alte Testament als von jüdischen Priestern erfunden, die zu ihrem eigenen Vorteil den Eindruck erweckten, dass es sich um alte Texte handelte. Er fand auch mehrere evangelikale Ausdrucksformen, wie in einigen Formen des Dispensationalismus, bei dem die Juden als Verbündete des Antichristen (vor ihrer Bekehrung) dargestellt werden.
Die Reformation zerstörte oder verdrängte oft Symbole, die sie in den von ihnen übernommenen Kirchen für götzendienerisch hielt. Aber oft blieben Symbole für Juden als Quelle allen Übels erhalten, wie in Wittenberg.
Wie haben deutsche Evangelikale auf die Debatte über die Skulpturen reagiert?
Die Frage der „Judensau“ hat die Freikirchen nur selten beschäftigt, da die Skulpturen nur an alten Kirchengebäuden zu finden sind. Die Mehrheit der Evangelikalen würde diese Skulpturen wahrscheinlich einfach nur abreißen wollen. Die Reaktionen sind in jedem Kontext und in jeder Denomination unterschiedlich. Die Baptisten haben beispielsweise schon sehr früh damit begonnen, sich mit ihrer NS-Geschichte auseinanderzusetzen, während es Freikirchen gibt, die erst im letzten Jahrzehnt begonnen haben, ihre eigene dunkle Geschichte zu erforschen. Außerhalb Deutschlands ist die Situation sehr unterschiedlich.
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