Die Entwicklung des ersten Glaubensbekenntnisses der Evangelischen Allianz aus dem Jahr 1846 ist bewegend, [Lindemann. Geschichte. S. 87–98] da die ersten beiden Sätze eine dynamische Spannung von sich ergänzenden Prinzipien erzeugt haben, die wir annehmen und anwenden müssen:

„1. die göttliche Inspiration, Autorität und Hinlänglichkeit der Heiligen Schrift. 2. Das Recht und die Pflicht des eigenen Urteils bei der Auslegung der Heiligen Schrift“. [Lindemann. Geschichte. S. 98.]

Einerseits findet sich hier eine unabänderliche und vereinheitlichende Bestimmung in der Genügsamkeit der Schrift. Andererseits spiegelt sie einen extremen Pluralismus wider, der jeden dazu verpflichtet, die Grundlage für sich selbst zu interpretieren.

Evangelikale sind durch zwei gegensätzliche Pole gekennzeichnet, und man wird ihnen nicht gerecht, wenn man nur einen Pol dieser Positionen betrachtet oder betont.

Um es noch einmal zu sagen: Auf der einen Seite steht die zentrale Bedeutung der Heiligen Schrift, die von der protestantischen Reformation übernommen wurde. Auf der anderen Seite gibt es das individuelle Heil, das sich aus Luthers Frage ergibt: „Wie finde ich einen gnädigen Gott?“ Es geht darum, dass jeder Mensch eine persönliche Beziehung zu Gott hat, und daraus ergibt sich als Korrektiv zur Zentralität der Heiligen Schrift die Berechtigung, ja die Verpflichtung eines jeden Christen, die Heilige Schrift selbst zu studieren und auszulegen. Die Folge ist, dass ein solcher Mensch mit jedem noch so gelehrten evangelikalen Theologen auf einer Stufe steht, selbst wenn es sein Pastor ist. So vereint die evangelikale Welt dogmatische Enge, dank der Stellung der Bibel, mit einer enormen demokratischen Weite, weil jeder Christ mitreden darf.

Die zweiten beiden Pole sind Mission und Religionsfreiheit. Aus der enormen Betonung einer persönlichen Beziehung zu Jesus ergab sich eine starke Betonung der „Pflicht zum Zeugnis“ sowie eine starke Betonung der Religionsfreiheit. Das Konzept der Freiwilligkeit kennzeichnet nicht nur Freikirchen. Vielmehr kennzeichnet es auch den innerkirchlichen Pietismus, für den der Glaube nicht etwas nur Äußerliches oder Ererbtes sein soll, sondern etwas persönlich Erfahrenes. Aber trotzdem kann niemand dazu gezwungen werden. Zwang zerstört nämlich die Möglichkeit, eine wirklich eigenständige, persönliche Umkehr vor Gott zu vollziehen. Deshalb ziehen wir eine kleinere Kirche mit überzeugten Mitgliedern einer großen Kirche mit vielen Mitgliedern vor, die nur aufgrund von gesellschaftlichem, familiärem oder anderem Druck dazugehören.

Ein typisches Beispiel ist das Verhältnis zur katholischen Kirche. Zur Zeit der Gründung der Evangelischen Allianz stand ihr Eintreten für Religions- und Wissenschaftsfreiheit im krassen Gegensatz zur ultramontanistischen katholischen Kirche, die Religionsfreiheit (und Menschenrechte) als atheistisch zugunsten eines katholischen Staates entschieden ablehnte. So stieß der Ansatz der Allianz zur Religionsfreiheit in der Entwicklung der katholischen Kirche auf ihrem Weg zur päpstlichen Unfehlbarkeit (1870) auf äußersten Widerstand. Die Betonung des Primats der freiwilligen persönlichen Bekehrung durch die Allianz schloss jede Art von Zwang in der Mission oder religiösen Zwang von Seiten eines christlichen Staates aus. Dies ist nun reine Geschichte, denn seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil und spätestens mit der neuen Erklärung „Christliches Zeugnis …“ ist die katholische Kirche zu einer wichtigen Verfechterin der Religionsfreiheit als christlichem Prinzip geworden.

Doch in Zeiten politischer Spannungen zwischen Evangelikalen und Katholiken verteidigte die Evangelische Allianz diskriminierte Katholiken in protestantischen Ländern. Als sich die Allianz 1858 mit einer Delegation gegen Schweden wandte, nachdem der oberste königliche Hof sechs zum Katholizismus konvertierte Frauen des Landes verwiesen hatte, und die Religionsfreiheit für diese Katholiken forderte, gab es in ganz Europa einen Sturm der Entrüstung außerhalb der Allianz. [Lindemann. Geschichte. S. 295–300.] Die Allianz war dann maßgeblich daran beteiligt, dass der schwedische Reichstag 1860 die Strafen für den Austritt aus der lutherischen Staatskirche abschaffte.

 

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