Interviews mit Thomas Schirrmacher
Sie haben mit den verantwortlichen Militärs in Südkorea gesprochen?
Ja, mit dem Leutnant General Michael A. Bills, dem kommandierenden General der achten US-Armee, die in Korea stationiert ist, und der koreanischen Grenztruppen, und mit Jeong Kyeong Doo, dem Joint Chief of Staff der südkoreanischen Armee, der den drei Befehlshabern der Teilstreitkräfte vorsteht. Bei beiden und anderen Militärs ist deutlich zu spüren, dass sie hoffen und beten, dass es zu keinerlei militärischen Auseinandersetzungen mit Nordkorea kommen wird, obwohl sie intensiv dafür üben. Bills war als Offizier übrigens mehrfach in Deutschland stationiert, zuletzt mit hohem Rang für ganz Europa.
Ich habe auch mit den leitenden Militärkaplänen gesprochen, nicht zum ersten Mal. Sie üben aus meiner Sicht einen sehr positiven Einfluss aus, weil sie Krieg nicht religiös überhöhen, sondern vermitteln, dass Frieden ethisch immer die bessere Option ist und Krieg nur die letzte Option der Verteidigung sein kann. Zudem wird Dank ihnen in den Streitkräften viel für eine friedliche Lösung des Konflikts gebetet.
Was beeindruckt Sie am meisten?
Beim Nationalen Gebetsfrühstück in Korea, bei dem ich auch den Präsidenten und seine Gattin kurz traf, gab es keinerlei Kriegsrhetorik, dafür immer und immer wieder das Gebet für eine friedliche Wiedervereinigung, wobei immer wieder Deutschland als Beispiel genannt wurde.
Sie kennen die Demarkationslinie zwischen Nord- und Südkorea?
Ja, und zwar an verschiedenen Stellen. Am Übergang der Vereinten Nationen zwischen Süd- und Nordkorea bin ich natürlich am häufigsten gewesen, interessanterweise in unterschiedlichen Funktionen, mal als Vertreter der Weltweiten Evangelischen Allianz, mal als Präsident der ISHR, mal zusammen mit den wichtigsten Kirchenführern Koreas. Ich kenne mich da inzwischen so gut aus, dass ich sofort sagen konnte, dass die Schüsse illegal waren, die kürzlich auf einen flüchtenden nordkoreanischen Offizier abgegeben wurden, weil der nordkoreanischen Schütze den entsprechenden Winkel nur von südkoreanischem Boden aus erreichen konnte.
Ich habe nicht nur die innerdeutsche Mauer an verschiedenen Stellen kennengelernt, sondern kenne auch Mauern und Grenzzäune in Israel, in Zypern oder zwischen Indien und Pakistan. Aber Korea ist besonders trostlos, weil es tatsächlich ein riesiges Niemandsland ist. Und während Seoul immer dichter an die Grenze heranreicht, kommt auf nordkoreanischer Seite längere Zeit nur Niemandsland, wo sich nur Militär ausmachen lässt.
Warum werden Sie so oft nach Korea eingeladen?
Zum einen arbeitet die International Society for Human Rights schon lange mit Parteiorganisationen in Korea zusammen, insbesondere zur Erforschung der Menschenrechtslage in Nordkorea. Dazu kommt mein Leitungsamt bei der Weltweiten Evangelischen Allianz. Fast ein Viertel der Bevölkerung Koreas gehören evangelikalen Kirchen an, offiziell 23,8% bei 31% Christen insgesamt. Das bringt eine hohe Verantwortung mit sich. Die WEA versucht deswegen ihren Einfluss geltend zu machen, weiterhin die Demokratie zu stützen und etwa gegen die grassierende Korruption in allen Bereichen der Gesellschaft vorzugehen, auch in den Kirchen. Erfreulicherweise öffnen sich die koreanischen Kirchen mehr und mehr für weltweite Zusammenarbeit und Rat von außen.
Sie berichteten in Korea über die deutsche Wiedervereinigung?
Ja, oft; ständig werde ich danach gefragt. Die Teilung zwischen Nord- und Südkorea dauert bereits viel länger als die deutsche Teilung und geht viel tiefer. Am Anfang stand ein grausamer Krieg gegeneinander, dessen Wunden bis heute nicht verheilt sind. Auch hat die Propaganda in Nordkorea viel tiefere Wurzeln geschlagen. Christen aus Südkorea haben mir erzählt, dass sie ihre Verwandten in Nordkorea bei Treffen nicht wiedererkannt haben und keine gemeinsame Gesprächsbasis finden konnten.
Dazu kommt, dass Südkorea selbst lange keine Demokratie war und noch manche Demokratiedefizite hat, etwa im Bereich der Regierungskorruption. Erst allmählich wurde das Thema ‚Freiheit‘ zum zentralen Unterschied.
Aber ja, die deutsche Wiedervereinigung ist in Südkorea ständiges Gesprächsthema, und die Hoffnung ist seit 1989 groß, dass Korea Ähnliches erleben könnte. Es gibt ja auch eine Parallele. Die deutsche Wiedervereinigung kam, als die Sowjetunion die DDR nicht mehr stützte und schützte. In Bezug auf Nordkorea wurde die Sowjetunion aber von China abgelöst, das Nordkorea durch Zahlungen für den Zugang zum Meer finanziell am Leben erhält und seine Hand über das Land hält. Wenn China seine Unterstützung beendet, dürfte eine Wiedervereinigung nur eine Frage der Zeit sein.
Wie stehen sie zu den kilometerweit sichtbaren Weihnachtsbaumkonstruktionen auf südkoreanischer Seite?
Auch wenn die 50 m hohen Weihnachtsdekorationen von einem Kreuz geschmückt und von Christen ähnlich im ganzen Land aufgestellt werden: Ob sie leuchten oder nicht, entscheidet allein das südkoreanische Verteidigungsministerium. Deswegen schienen sie 2004–2009 nicht, seit 2010 scheinen sie wieder. Als WEA haben wir die missverständliche Verquickung von Politik und christlicher Botschaft mehrfach angesprochen.
Umgekehrt ist es Unsinn, wenn die nordkoreanische Regierung von psychologischer Kriegsführung spricht und unter anderem deswegen Weihnachten in Nordkorea verboten hat. Denn in Nordkorea kann niemand die Weihnachtsbäume oder die überdimensionierten Fahnen Südkoreas sehen, da der einzige Ort in Sichtweite, Kijong-dong (Deutsch: Kaesong, Friedensdorf), eine reine Propagandastadt ist, in der es zwar eine riesige Statue des Diktators und einen der höchsten Fahnenmasten mit einer tonnenschweren Fahne gibt, aber keine Einwohner, von Soldaten abgesehen. Umgekehrt können sehr wohl Südkoreaner die nordkoreanische Propaganda sehen.
Interview mit Radio Vatikan
(Originalton des Interviews mit Vatican News)
Radio Vatikan wollte zunächst von Schirrmacher wissen, wie sich die aktuellen Spannungen zwischen Nordkorea und den USA und somit auch Südkorea auf die Christen in Nordkorea auswirken.
Schirrmacher: Man muss dazu sagen, dass Informationen, wie es den Christen in Nordkorea geht, meistens zeitverzögert aus dem Land herauskommen, sei es durch Flüchtlinge, durch Kontakte oder auch Besuche im Land, sodass es immer schwer ist zu sagen, was vorgestern der Fall war. Im Moment zu beobachten ist, dass die wenigen Initiativen, die die Kirchen im Lande haben, erleben, dass alle Kontakte in die USA gekappt werden. Das trifft überwiegend koreanische Christen, die sich in Nordkorea engagieren, die selber in den USA leben. An den ganz wenigen Projekten, an denen Südkoreaner beteiligt sind, hat sich im Moment nichts getan. Wie ja überhaupt festzustellen ist, dass sich die Rhetorik völlig auf Amerika bezieht und fast gar nicht auf Südkorea. Darüber hinaus geht es den Christen natürlich nicht gut, aber bisher hat sich der Konflikt noch nicht unmittelbar verschärfend auf sie ausgewirkt.
RV: Sie waren gerade auch in Nordkorea unterwegs. Wie ist die allgemeine humanitäre Lage vor Ort und wie speziell die Lage der Christen? Man hört von Gewalt gegen Christen auf der einen Seite und der Möglichkeit, in Ruhe einen Gottesdienst feiern zu können, auf der anderen.
Schirrmacher: Die Unterschiede der Berichte haben damit zu tun, dass wir zu kaum einem Land der Erde so wenig wissen. Was man weiß, sind jeweils die Beschreibungen von Situationen, zu denen jemand unmittelbar Kontakt hat. Beides ist richtig: Die Christen, die in Straflagern sind, und die Christen, die in irgendeiner Weise als Bedrohung wahrgenommen werden, denen geht es sehr schlecht. Aber es gibt natürlich geduldete Gottesdienste in der Hauptstadt, und wenn man sich daran hält und ansonsten unauffällig ist, dann hat man auch die Möglichkeit zusammen Gottesdienst zu feiern. Nicht ganz frei, sondern mit spezieller Genehmigung und unter Beobachtung der Regierung, damit kein Wort zu viel gesagt wird. Die Predigten müssen vorher abgesegnet werden, das sind also keine freien Gottesdienste, wie wir es verstehen würden.
RV: Eine besondere Rolle spielt der südkoreanische Katholik und Präsident Moon Jae-in – werden seine Dialogangebote im Norden überhaupt wahrgenommen?
Schirrmacher: Die Kirchen in Südkorea haben innerhalb des Landes, auch bei den Nichtchristen, einen sehr hohen Vertrauensvorschuss. Die allgemeine Sprachregelung ist, dass es die Christen gewesen sind, die gegen die Militärdiktatur vorgegangen sind, die für die Einführung der Demokratie gewesen sind. Gemessen an anderen sind sie auch diejenigen, die eher für einen korruptionsfreien Staat sind. Deshalb ist es auch kein Zufall, dass auf eine Situation, in der die Regierung über Korruption gestürzt ist, wieder ein christlicher Präsident folgt. Die Militärdiktatur ist sicherlich ganz wesentlich durch das Tun der Kirchen gestürzt worden, aber eben friedlich. Das ist das kleine Einmaleins aller Christen in Korea: Alle sind vehement gegen eine militärische, gewaltmäßige Lösung des Konflikts. Es wird quasi in jedem Gottesdienst, den ich erlebe, intensiv für eine friedliche Lösung gebetet. Dafür steht jetzt natürlich der katholische Präsident besonders. Ich denke, dass das in Nordkorea auch sehr deutlich wahrgenommen wird und mit ein Grund ist, warum sich die Verschärfung der Rhetorik momentan nicht zwischen Nord- und Südkorea abspielt, sondern nur zwischen Nordkorea und den USA.
Dazu muss man sagen, dass die Koreaner allgemein und speziell die koreanischen Kirchen todunglücklich sind, dass sich die amerikanische Seite rhetorische Schlagabtausche mit Nordkorea liefert, ohne überhaupt die südkoreanische Seite zu informieren oder einzubeziehen. Die Hauptstadt Seoul mit einem Drittel der Einwohner von Südkorea liegt keine 25 Kilometer von der Grenze zu Nordkorea entfernt und einige Wohngebiete reichen bis direkt an die Grenzen, sodass es fast unvermeidlich ist, dass die Hauptstadt mit ausgelöscht wird (wenn es zu einer derartigen Eskalation kommen sollte, Anm.). Wenn Trump also sagt, dass er Nordkorea auslöschen möchte, ist das für die Südkoreaner sehr schwer zu verstehen. Das hat natürlich viel mit der Mentalität von Präsident Trump zu tun, der überhaupt niemanden einbezieht.
Dagegen werden die internationalen Kirchen ganz anders wahrgenommen. Der Vatikan hat in solchen Fragen immer den Vorteil seines „Doppelgesichtes“ als Kirche und als Staat. Der Vorteil des Vatikans ist, dass er neben unmittelbar kirchlichen Projekten, wie katholischen Krankenhäuser in der Hauptstadt Nordkoreas, auch mit dem urdiplomatischsten Dienst der Welt arbeiten und viele Kontakte außerhalb der Öffentlichkeit wahrnehmen kann. Der Vatikan spielt in dem, was im Moment in Nordkorea passiert, aber auch in dem, was Südkorea erwartet, eine wesentliche Rolle, weil er Gespräche ermöglichen kann, die andere nicht ermöglichen können, und das unter dem Siegel der völligen Verschwiegenheit.
RV: Christen in Nord- und Südkorea beten für Frieden und eine Verständigung beider Teile Koreas, sagten Sie – inwiefern tragen die Kirchen konkret zu einer Stabilisierung innerhalb der angespannten Lage bei?
Schirrmacher: Der Gleichklang aller Kirchen, aller Gottesdienste, dass man eine friedliche Lösung will und der Protest gegen jegliche Überlegungen von kriegerischen Maßnahmen, ist sicher ein Grund dafür, dass es im Moment zwischen den beiden Ländern sehr ruhig ist. Da spielt natürlich auch eine Rolle, dass Kirchenführer wie ich in Nordkorea berichten können, was sie in Südkorea erlebt haben. Unsere Bestätigung, dass es keinerlei Kriegsabsichten gibt, ist sicher. Die Kirchen sind durchaus dafür, dass Südkorea eine kampfbereite Armee hat, aber es ist ein beruhigender Faktor, dass eine so einflussreiche Größe, also die katholische Kirche und die Yoido Full Gospel Church, die größte Pfingstgemeinde der Welt, unisono in dieser Frage spricht.
RV: Scheint eine Wiedervereinigung wie in Deutschland in Korea möglich?
Schirrmacher: Schon als junger Pfarrer bin ich regelmäßig zu Kirchenschulungen in der DDR gewesen und habe die Wiedervereinigung sehr eng mitbekommen. Die Situation in Korea und die damalige Situation in Deutschland sind nicht vergleichbar. In Nordkorea hat die Gehirnwäsche in einem schockierenden Maße funktioniert. Man trifft sehr wenige Menschen, die auch hinter vorgehaltener Hand, wenn alles ganz sicher ist, irgendwelche kritischen Rückfragen stellen. In keinem Land der Erde in der Geschichte ist es gelungen, die Bevölkerung derartig von Außeninformationen abzuschotten und derartig einzuschwören. Das hat die Folge, dass etwas wie eine Zivilgesellschaft – sei es nur ein ganz kleiner Prozentsatz der Bevölkerung, um den herum sich etwas Neues kristallisieren könnte – nicht existiert. Das macht die Sache äußerst schwierig.
Über die wenigen offenen Kirchengebäude hinaus fehlen den Kirchen Ansprechpartner. Familien aus Südkorea, die Verwandte im Norden haben, berichten, dass man sich nicht unterhalten kann, weil die Verwandten sowohl im Lebensstil noch nie davon gehört haben, dass es Länder gibt, in denen z.B. jeder ein Auto fährt, als auch politisch überhaupt keine Ahnung haben, was außerhalb von Nordkorea los ist – weil sie wirklich nur die Staatsnachrichten kennen. Den Effekt, den es in der DDR gab, dass die Menschen „Westfernsehen“ geschaut haben und somit wussten, wie es woanders aussieht, fehlt bei den Nordkoreanern vollkommen.
Selbst wenn es eine Lösung der Probleme gäbe und Freiheit käme, wäre die Zahl der Menschen, die ein neues Nordkorea mit aufbauen könnten, sehr gering. Da sollten sich die Kirchen, nicht nur in Südkorea, schon im Vorfeld Gedanken machen, wie man am Tag X – so er denn hoffentlich kommt – mit dieser Problematik umgeht und wie man so schnell wie möglich Gelegenheiten schafft, damit eine Zivilgesellschaft entstehen kann. Ansonsten droht die Gefahr, selbst wenn es nicht zu einer Wiedervereinigung kommt, dass die enorm starke Zivilgesellschaft Südkoreas einfach alles übernimmt.
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