Interview mit den Autoren des neuen Buches „Korruption“ David und Thomas Schirrmacher

Korruption_CoverBonner Querschnitte: Warum sollte jemand, der selbst nicht korrupt oder von Korruption betroffen ist, Ihr Buch lesen?

Thomas Schirrmacher: Korruption ist kein privates Problem und kein Kavaliersdelikt. Korruption kann töten, etwa wenn minderwertige Ersatzteile in Flugzeuge eingebaut werden oder Entwicklungsgelder für Hungernde privat abgezweigt werden. Von Korruption sind alle oder wenigstens sehr viele betroffen, auch wenn sie es meist nicht unmittelbar merken oder wissen. Alle sind davon betroffen, weltweit aber am meisten die Ärmsten der Armen, etwa wenn entscheidendes Geld für Trinkwasser oder medizinische Versorgung fehlt.

David Schirrmacher: Korruption selbst ist Wirtschaftskriminalität, aber zugleich ist sie eine dauerhafte Begleiterscheinung aller anderen Arten von Wirtschaftskriminalität. Schwarzgeldkonten, Kartellabsprachen, Menschenhandel, organisierte Schwarzarbeit, Zwangsprostitution oder Insideraktienhandel sind praktisch alle nicht zu haben, wenn man nicht „schmiert“.

BQ: Gibt es eine Besonderheit Ihres Buches?

David Sch.: Es ist kurz+bündig! Ein Fernsehkrimi weniger und man weiß Bescheid.

Thomas Sch.: Wir haben im Buch ungezählte konkrete Beispiele für Korruption kurz dargestellt, sehr übersichtlich in jeweils einem Absatz und mit Stichworten darüber, für welche Art von Korruption das Beispiel steht.

David Sch.: Wie die Logos hinten zeigen, wird das Buch für Kampagnen der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte, Gebende Hände, der Micha-Initiative und von StoppArmut 2015 in der Schweiz eingesetzt. Es ist also ein echtes Buch für Leute, die etwas verändern wollen!

BQ: Haben Sie ein paar Zahlen für uns?

David Sch.: Die Weltbank schätzt, dass jedes Jahr mehr als eine Billion Dollar in korrupte Kanäle fließen. Die Beseitigung der extremsten Armut (Menschen, die von weniger als 1,25 US-Dollar am Tag leben) würde geschätzte 60 Milliarden US Dollar pro Jahr kosten. Bei industriellen Großprojekten munkelt man selbst innerhalb von Deutschland, Österreich und der Schweiz von 3 Prozent des Auftragswertes als Schmiergeldsumme. Internationale Manager gehen davon aus, dass Korruption die Projektkosten im Schnitt um 10 Prozent erhöht.

BQ: Aber betrifft uns das in den deutschsprachigen Ländern wirklich?

Thomas Sch.: Immer neue Sensationsartikel und Prozesse bringen es an den Tag: Korruption und Bestechlichkeit greifen auch in den deutschsprachigen Ländern immer mehr um sich, im kleinen, im mittleren wie im ganz großen Bereich. Noch in den 1980er Jahren galt Korruption vornehmlich als ein nationales Problem der weniger entwickelten Staaten. Dann erschütterte die Flick-Affäre die Republik.

David Sch.: Was uns einst nur aus dem Globalen Süden oder aus Italien bekannt zu sein schien, wird mehr und mehr auch bei uns alltäglich. Der unbestechliche Beamte, einst Leitbild preußischer Disziplin, wird seltener und ist nicht mehr Leitbild etwa für Ausbildung oder Auswahlverfahren. Wenn auch die Richterschaft in Deutschland, Österreich und der Schweiz selbst noch weitgehend von Bestechungsfällen ver­schont geblieben ist, greift das „Schmieren“ etwa bei Botschaften, bei Zoll und Polizei, in Behörden und Aufsichtsgremien immer mehr um sich, um vom Bereich der Wirtschaft einmal gar nicht zu sprechen.

Thomas Sch.: Sicher gibt es auch gute Zeichen. So geben laut Eurobarometer statistisch gesehen 0 Prozent der Deutschen an, sie hätten mit Bestechung von Polizisten Erfahrung. (In Österreich sind es 2 %, die Schweiz wird nicht erfasst.) In Lettland liegt die Zahl innerhalb der EU mit 8 % am höchsten.

Aber leider stehen auf der anderen Seite auch in Deutschland auch Korruptionsaffären, die die Spitzen des Staates involvieren. Die CDU-Spendenaffäre rund um das Jahr 1991 wurde 1999 aufgedeckt, 2000 trat der frühere Bundeskanzler Helmut Kohl als CDU-Ehrenvorsitzender zurück. Bundeskanzler Gerhard Schröder peitschte 2005 kurz vor seiner Abwahl die russische Ostsee-Gaspipeline durch, gab nach der Wahl – als er nur noch geschäftsführend im Amt war – unter Ausschluss der Öffentlichkeit einen großzügig ausgestatteten Milliardenkredit zum Bau einer Gaspipeline von Russland nach Deutschland. Er erhielt wenige Wochen nach der Wahl von Wladimir Putin ein sehr lukratives Aufsichtsratsmandat, das bis heute seinen Lebensabend verschönert.

BQ: Was haben Korruption und Moral miteinander zu tun?

Thomas Sch.: Korruption ist von Geheimnissen bestimmt. Deswegen sind Tarnen ebenso wie Verschleiern, Täuschen, Lügen, Betrügen und Vertrauensverrat immer Bestandteile der Korruption.

David Sch.: Bis zur Finanzkrise galt die Umgehung von Gesetzen, Regeln und Moral zum eigenen Vorteil sehr vielen Bundesbürgern als pfiffig und verständlich. Mit der Finanzkrise wurde aber offensichtlich, dass einige wenige unmoralisch Handelnde Millionen, ja Milliarden Menschen in ihrer Existenz gefährden können. Ein Mensch hat vielleicht eine Jacht mehr, aber Millionen können plötzlich die Lebensmittelpreise nicht mehr bezahlen oder verlieren ihr Erspartes.

BQ: Ihre eigentliche Motivation?

Thomas Sch.: Wir haben uns als Menschenrechtler das Thema Korruption vorgenommen, weil ein erheblicher Teil der Menschenrechtsverletzung erst durch Korruption ermöglicht wird oder die Strafverfolgung bei Menschenrechtsverletzungen wegen korrupter Justiz nicht funktioniert.

David Sch.: Ein ganzes Buch könnte man füllen, um zu belegen, wie oft es wenig Sinn hat, gegen Menschenrechtsverletzungen vorzugehen, wenn man nicht gleichzeitig gegen Korruption vorgeht.

Thomas Sch.: Außerdem denken wir, dass überzeugte Christen verpflichtet sind, gegen Korruption aufzustehen. Der Vater des Pietismus, dem wir uns zurechnen, Philipp Jakob Spener (1635-1705), schrieb 1675 in seiner Hauptschrift „Pia Desideria“ („Fromme Wünsche“), wie schrecklich es sei, dass selbst Christen sich durch Korruption „Vorteile“ verschafften, die „dem Nebenmenschen … beschwerlich sind, ja ihn gar unterdrücken und aussaugen“. Die alttestamentlichen Propheten sahen in der Bekämpfung von Korruption und Habgier den besten Weg zum Schutz der Armen und Rechtlosen. Dem können wir uns nur anschließen.

BQ: Ist Korruption kulturell bedingt? Ist Korruption etwas, dass die ganze Menschheit gleichermaßen definiert und verurteilt? Oder hängt die Definition von Korruption so stark an der jeweiligen Zeit und Gesellschaft, dass man gar keine internationalen Vergleiche ziehen kann?

Thomas Sch.: Korruption ist unseres Erachtens so etwas wie Folter, das immer und überall falsch ist, gleich in welcher Kultur. Es gehört nicht in einen Topf etwa mit Steuerhinterziehung, die man nur in einem bestimmten Jahr und Land definieren kann und die sich je nach Steuergesetzgebung ändert.

David Sch.: Sicher gibt es große kulturelle Unterschiede im Verständnis von öffentlichen Ämtern, etwa im Umgang mit Geschenken, in der Bezahlung von Staatsbediensteten. Und natürlich gab es lange große Unterschiede, welche Art von Korruption bestraft wurde und wie das geschah, auch wenn es in den letzten Jahren eine gewaltige internationale Angleichung der Gesetzgebung gab. Dennoch gibt es von Zweifelsfällen abgesehen viele Arten von Korruption, die die große Mehrheit aller Erdenbürger für falsch und verwerflich hält. Spätestens wenn in fast jeder Revolution die Herrschenden für völlig korrupt gehalten werden und der starke Wunsch da ist, nichtkorrupte Politiker an die Stelle zu setzen, zeigt sich, dass selbst in sehr korrupten Gesellschaft das generelle Wissen vorhanden ist, dass dies nicht so sein sollte und der Gesellschaft schadet.

Thomas Sch.: Ägypten beispielsweise ist eine von Korruption gebeutelte Gesellschaft. Trotzdem oder gerade deswegen konnte Mohammed Mursi mit dem Versprechen Präsident werden, die Korruption zu beenden und für die Armen da zu sein. Dass die Bevölkerung ihn schon ein Jahr später wieder loswerden wollte, lag auch daran, dass er sich als so korrupt wie seine Vorgänger erwies.

David Sch.: Das Argument, die Korruptionsbekämpfung sei kultureller Imperialismus und man müsse akzeptieren, dass es Kulturen gebe, in denen das Beschenken von Amtsinhabern einfach üblich sei, hat seine Durchschlagskraft eigentlich 2003 verloren, weil seitdem 170 Länder der Erde freiwillig die UN-Konvention gegen Korruption ratifiziert haben, und das, obwohl die Konvention über alles hinausging, was bis dahin bereits an Antikorruptionsabkommen etwa in den USA und Europa vorhanden war.

BQ: Wie definieren Sie Korruption?

Thomas Sch.: Als Missbrauch von anvertrauter Macht zum privaten Vorteil.

David Sch.: Der private Nutzen muss nicht der eigene sein, es kann sich auch um einen Dritten oder um eine Organisation handeln, etwa die eigene Partei. Bestechung kann durch viel mehr als nur durch Geld und materielle Zuwendungen geschehen. Man kann Menschen mit Ämtern, Titeln, Ehren, Orden oder Beförderung bestechen, mit Mitgliedschaften, Insiderwissen oder sexuellen Dienstleistungen.

BQ: Was kann man denn konkret gegen Korruption tun?

Thomas Sch.: Man muss nicht warten, bis im Einzelfall jemand korrupt wird, sondern alle Systeme von vornherein so anlegen, dass sie mit Korruption rechnen und ihr von Anfang an wehren. Sicher, viele Menschen sind nicht korrupt, aber sie werden sich an solchen Präventionsmaßnahmen, Überprüfungen und Strafen nicht stören. Alle anderen aber sollten von Anfang an wissen, dass Korruption konsequent angegangen wird.

David Sch.: Es gibt wichtige Erfahrungsregeln, die man in jedes System und jede Firma einbauen sollte, etwa, dass Kontrolle unbedingt die unmittelbare Inaugenscheinnahme von Dokumenten und Ergebnissen beinhaltet (also etwa des gekauften Gutes, der Bauten oder Veranstaltungen vor Ort), oder dass nie nur eine Person von Anfang bis Ende allein für einen Einkauf oder ein Projekt verantwortlich sein sollte. Umgekehrt lehrt etwa die Erfahrung, dass Rotation und Umgruppierung von leitenden Mitarbeitern nicht immer die Lösung ist. Dadurch kann Korruption auch allmählich im ganzen System verbreitet werden.

BQ: Kann jeder von ihnen noch einen konkreten Vorschlag äußern?

Thomas Sch.: Bewährt haben sich Antikorruptionsbeauftragte (besonders in Behörden, aber auch in Firmen und NGOs), sie sollten aber erfahrene Rechnungsprüfer sein und den tatsächlichen Betrieb im eigenen Haus mit seinen Heimlichkeiten kennen, das heißt, sie sollten nicht nach politischen Gesichtspunkten oder leistungsfremden Kriterien ausgesucht werden.

David Sch.: Ein Ethikkodex sollte schriftlich vorliegen, verständlich sein, gute Gründe nennen, für alle vom Größten bis zum Kleinsten gleichermaßen gelten, disziplinarische Konsequenzen benennen, Ansprechpartner und Vermittlungsgremien angeben. Zudem muss es ein gelebtes Dokument sein, das klar kommuniziert wird und immer wieder Gegenstand von Besprechungen auf allen Ebenen ist.

BQ: Herzlichen Dank für das Gespräch!

 

Bibliografische Angaben:

  • Thomas und David Schirrmacher. Korruption – Wenn Eigennutz vor Gemeinwohl steht. Hänssler Kurz und Bündig. SCM-Hänssler: Holzgerlingen, 2014. Pb. 112 S. ISBN 978-3775155243. 7,95 EUR [D]
  • Das Buch ist über den örtlichen Buchhandel oder online bei www.genialebuecher.de zu beziehen.

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