Überarbeitet aus Thomas Schirrmacher. „Lexikon des Christentums“ usw., S. 8-267 in: Thomas Schirrmacher, Christine Schirrmacher u. a. Harenberg Lexikon der Religionen. Düsseldorf: Harenberg Verlag, 2002.

Trennung von Kirche und Staat?

Das Christentum hat in seiner zweitausendjährigen Geschichte und weltweiten geographischen Ausbreitung wahrscheinlich jede nur denkbare Spielart des Verhältnisses von Religion und Staat durchlaufen, die Staatskirche, die alle Andersdenkenden blutig verfolgte ebenso, wie den christlichen Widerstand gegen den Staat des Kirchenvaters Ambrosius von Mailand (339–397) oder von Dietrich Bonhoeffer, den Anspruch, die Politik sei eine Abteilung der Kirche, wie sie mittelalterliche Päpste erhoben, genauso, wie die Trennung von Kirche und Staat in der Verfassung der USA, die christliche Vordenker mit entwarfen, oder die völlige politische Enthaltsamkeit evangelischer Freikirchen wie der Mennoniten. Christliche Kirchen haben die Politik missbraucht und sind von der Politik missbraucht worden, so wie andere diesem Missbrauch vorbildlich widerstanden haben.

Gleichzeitig gäbe es heute aber ohne die christliche Geschichte und die in ihrem Bereich erwachsene Aufklärung wohl keine Trennung von Kirche und Staat und keine darauf basierende Religionsfreiheit und Menschenrechte. Zudem sind noch immer alle diese Elemente nirgends leichter durchzusetzen als in christlichen und ehemals christlichen Ländern. Und alle Länder mit mehrheitlich christlicher Bevölkerung sind Demokratien – mit Ausnahme von Kuba und dem bedauerlichen Umstand, dass in etlichen orthodox geprägten Ländern zwar die Regierung gewählt wird, es aber um Menschenrechte oder etwa unabhängige Gerichtsbarkeit nicht so gut bestellt ist. Dafür gibt es Gründe. Während zum Beispiel der Islam keine wirkliche Trennung von Religion und Staat kennt, weswegen diese Trennung rechtlich und denkerisch recht schwierig ist, und während der Hinduismus ein Sammelbegriff für Religionen der Inder ist und von daher nur schwer von der nationalen Zuordnung zu trennen ist, ist die Trennung von Kirche und Staat im Christentum angelegt, indem es die Kirche als ganz eigenständige Institution neben dem Staat schon immer gab.

Die Trennung von Kirche und Staat wurde in den USA nicht zufällig in den einzelnen Bundesstaaten auch von überzeugten Christen eingeführt. Und heute ist es Allgemeingut praktisch aller Kirchen: Der Staat hat nicht unter der Herrschaft einer Kirche oder Religion zu stehen, so wie umgekehrt der Staat nicht eine Kirche oder Religion beherrschen darf. Die Trennung von Kirche und Staat widerspricht dem christlichen Glauben nicht, sondern ergibt sich natürlich aus ihm. Denn die biblische Aufgabe des Staates ist es, ein friedliches Zusammenleben der Menschen zu ermöglichen, gleich was diese Menschen glauben, die Aufgabe der Kirche und der Religion ist es, auf die Ewigkeit hinzuweisen, den Menschen Halt zu geben und die Beziehung zu Gott zu fördern. Erst wenn sich der Staat nicht mehr den grundlegenden Schöpfungsordnungen Gottes verpflichtet weiß, wird aus der Trennung von Kirche und Staat ein Kampf des Staates gegen das Christentum.

Trotz aller Verirrungen in früheren Jahrhunderten gab es keine andere Religion, in der die Trennung von Kirche und Staat von Anfang an so angelegt war, wie im Christentum. Während in anderen Völkern selbstverständlich der Herrscher auch die Funktion des obersten Priesters oder Gottes innehatte, kennen das Alte wie das Neue Testament weder einen König, der zugleich oberster Priester ist, noch einen obersten Priester, der zugleich die Politik bestimmt. Das Alte Testament unterscheidet sich nämlich von seiner Umwelt unter anderem radikal dadurch, dass der Führer des Staates, selbst der spätere König, nicht oberster Priester war, ja, der König noch nicht einmal Verfügungsgewalt über die Priester hatte und sich die Kritik von Priestern und Propheten gefallen lassen musste. Der Historiker Eugen Ewig spricht deswegen von der schon alttestamentlich begründeten Zweigewaltenlehre, und der Historiker Eduard Eichmann schreibt über die alttestamentliche Gewaltenteilung in Hohepriester und König: „Mit den heiligen Schriften sind diese alttestamentlichen Vorstellungen Gemeingut des christlichen Abendlandes geworden.“

Beispiele für die organisatorische Trennung von Kirche und Staat im Alten Testament

  • der Unterschied zwischen König und Priester;
  • die Arbeitsteilung von Mose als Gesetzgeber und Aaron als Hoherpriester;
  • die Arbeitsteilung von Nehemia als Statthalter und Esra als Priester;
  • die Arbeitsteilung von Deborah als Prophetin und Barak als Richter und Feldherr;
  • die doppelte Verwaltung in Israel, wie sie etwa 2Chr 19,11 zum Ausdruck bringt und zu der getrennte weltliche und geistliche Gerichtsbarkeiten gehörten (2Chr 19,8);
  • die Existenz von zwei getrennten Arten von Steuern, nämlich der Steuer für Gott (der ‚Zehnte‘) und der Steuer für den König (‚Abgabe‘, ‚Steuer‘).
  • die Existenz zweier Arten von Salbung (z. B. die Doppelsalbung in 1Chr 29,22: Salomo „zum Fürsten“ und Zadok „zum Priester“);
  • die Existenz zweier zentraler Häuser in Jerusalem (das „Haus des Herrn“ und das „Haus des Königs“ in 2Chr 7,11);
  • die Existenz zweier Gesetzessammlungen („Gesetz Gottes“ und „Gesetz des Königs“ in Esra 7,26).

Jesus übernimmt die getrennten Steuern nahtlos, obwohl die Obrigkeit inzwischen längst nicht mehr der König Israels, sondern eine fremde Macht war: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist“ (Mt 22,21; vgl. Spr 24,21; 1Petr 2,17). Und Paulus geht in seinen berühmten Worten, dass der Staat von Gott eingesetzt ist (Röm 13,1–7), davon aus, dass der nichtchristliche Staat gerade auch Christen unterschiedslos zu bestrafen hat, wenn sie gegen das Gesetz verstoßen.

Der reformierte Mitverfasser des Heidelberger Katechismus Zacharias Ursinus (1534–1583) schreibt zum Unterschied von Kirche und Staat klassisch: „1. Die staatliche Gewalt bestraft vi corporali, die Kirche ermahnt nur durch das Wort und schließt aus der Gemeinschaft aus. 2. Der Staat beschränkt sich auf die Ausübung der Gerechtigkeit in der Strafe, die Kirche aber sucht die Besserung und das Heil der Menschen. 3. Der Staat geht zur Strafe über, wo die Gemeinde brüderlich ermahnt, ‚um durch eine baldige Besserung die Strafen der staatlichen Gewalt zu vermeiden‘. 4. Der Staat bestraft viele Laster nicht, die der Kirche schaden und von ihr getadelt werden müssen.“

Historische Modelle des Verhältnisses von Kirche und Staat

Sakralkönigtum: Der oberste weltliche Herrscher ist von Gott eingesetzt oder ist Gott und deswegen zugleich oberster Priester. Wurde im Christentum nie vertreten, allerdings verstand sich Kaiser Konstantin der Große (306/24–337) noch so, weswegen er als Pontifex Maximus sowohl oberster Priester der heidnischen Religion blieb, wie auch die Kirche führte, vor allem in dem er das Konzil von Nicäa einberief und leitete.

Cäsaropapismus: (Lat.: Kaiser und Papst [zugleich]), die Vereinigung der höchsten weltlichen und kirchlichen Gewalt in der Hand eines Kaisers oder Königs, wird für den Bereich des Byzantinischen und später des Russischen Reiches Cäsaropapismus genannt und ist ein Kennzeichen der orthodoxen Kirchen bis zum Ersten Weltkrieg. Allerdings nannte sich der Kaiser ‚episkopos ton ektos‘ (Griech.: Bischof für die äußeren Angelegenheiten), überließ also die geistliche Leitung dem Patriarchen. Im anglikanischen Bereich nennt man dieses bis heute bestehende Modell Established Church, im katholischen Bereich bis in das 19. Jh. Staatskirchentum, im evangelischen Bereich Summepiskopat, das in Deutschland 1918 abgeschafft wurde. Alle diese Formen bestehen heute entweder nicht mehr oder aber nur noch auf dem Papier, wie in England.

Zweischwerterlehre: Die im Mittelalter gültige Sicht, dass Gott zwei Schwerter verleiht, eines an den Kaiser als weltlicher Gerichtsbarkeit, eines an den Papst als geistlicher Gerichtsbarkeit, oft auch als Schlüssel dargestellt.

Zweireichelehre: Von Aurelius Augustinus (354–430) und vor allem Martin Luther vertretenes Modell, nach dem Gott zwei Reiche regiert. Im geistlichen Reich regiert Gott durch sein geistliches Regiment (Evangelium, Wort und Sakrament), im weltlichen Reich regiert Gott durch sein weltliches Regiment (Gesetz, Staat, Strafe), wobei jeder Christ zu beiden Reichen gehört.

Verweigerung: Die friedliche Richtung der Täuferbewegung, die Mennoniten, verweigerten jede Zusammenarbeit mit dem Staat, lehnten also den Kriegsdienst, das Schwören und die staatliche Lenkung der Kirche ab.

Summepiskopat (Lat.-Griech.: summus episcopus: oberster Bischof), Kirchenleitung der evangelischen Landeskirchen durch den Landesherrn als oberster Bischof bis 1918. Luther hatte die Landesfürsten in der Reformation aus Sorge übergangsweise als Notbischöfe gesehen, woraus ein Dauerzustand wurde, nach dem der Landesfürst die Kirche durch eine Kirchenbehörde leitete; lebte im Kirchenministerium des Dritten Reiches wieder auf; in der anglikanischen Kirche bis heute in Kraft, wenn auch eine tatsächliche Leitung der Kirche durch die Königin schon lange nicht mehr stattfindet. Bisweilen wird auch die nominelle Herrschaft der englischen Könige über die anglikanische Kirche so bezeichnet, die sonst mit Established Church bezeichnet wird.

Gottesgnadentum: Der König sieht sich als von Gott eingesetzt und deswegen als unmittelbar zu Gott. Seine Untertanen haben ihm deswegen absolut zu gehorchen. Zuletzt in Deutschland von Kaiser Wilhelm II. vertreten.

 

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