Der Aufruf von Tammy Bruce
Die lesbische Radiomoderatorin Tammy Bruce hat in einem Beitrag für die Washington Post und im Fernsehsender Fox als bekennende Lesbe deutliche Worte an die Schwulen- und Lesbenbewegung gerichtet, weil die frühere homosexuelle Minderheit heute ihren einstigen Feinden alles mit gleicher Münze heimzahle. Dass man Christen keine Freiheit mehr zum Andersdenken gäbe, schieße weit über das Ziel hinaus und kehre die Forderung nach Toleranz in ihr Gegenteil. Wenn jemand wissen müsse, wie sich eine in die Ecke gedrängte Minderheit fühle, wäre das die Gay-Community. Warum könne man den christlichen Kräften, die sich für ein moralisches Monopol des Ideals der lebenslänglichen, zweigeschlechtlichen Einehe einsetzten, nicht ihr Recht auf Meinungsfreiheit lassen? (Als Beispiel für zahlreiche Berichte siehe hier und hier.)
Wie leider viele Minderheiten der Geschichte, die zu politischer Macht kamen, wird auch von der LSBT-Lobby den tatsächlichen, aber oft auch nur den vermeintlichen einstigen Verfolgern alles politisch heimgezahlt.
Und wie immer geht es dabei um Sippenhaft. Denn man nimmt die Nachfahren der einstigen Gegner heute in Sippenhaft für das, was früher geschah, und nimmt eine ganze Bevölkerungsgruppe unterschiedslos in Sippenhaft, gleich, ob ihre einzelnen Mitglieder überhaupt so denken wie früher, oder nicht! Und es sind oft noch nicht einmal die biologischen Nachfahren, ja oft liegt die Verbindung zu Gruppen vergangener Zeiten nur in einem einzelnen Faktor, den sie – tatsächlich oder vermeintlich – gemeinsam haben.
Retourkutsche: Beispiel aus der Geschichte
Der Bonner Juraprofessor Christian Hillgruber schreibt dazu:
„Es kommt nicht selten vor, dass Sieger sich nicht mir ihrem Sieg allein zufriedengeben, sondern die Besiegten auch noch demütigen wollen. Sie sollen nicht nur ihre Niederlage eingestehen, sondern auch bekennen, dass sie für die falsche Sache gestritten haben und ihrem ‚Irrtum‘ abschwören.“ (Christian Hillgruber. „Wo bleibt die Freiheit der anderen? … Ein Plädoyer für den Schutz einer neuen Minderheit“. FAZ 20.2.2014.)
Einige ganz unterschiedliche Beispiele aus Geschichte und Gegenwart mögen das verdeutlichen:
Die Lutheraner begannen früh im 16. Jahrhundert nur wenige Jahre nach Entstehung der lutherischen Kirche dort, wo die Landesherren lutherisch waren, ihre einstigen Verfolger, die Katholiken, ebenso gründlich zu verfolgen.
Ich will den heroischen Wechsel in Südafrika von der Apartheid zur multiethnischen Demokratie nicht pauschal verunglimpfen, aber es gibt leider genügend Anzeichen, dass die neuen Machthaber diejenigen diskriminieren, die vorher die Macht hatten, einschließlich der Diskriminierung von Nichtweißen, die unter dem rassistischen Regime neutral waren, mit diesem aus vielerlei Gründen kooperierten oder aber den Kampf gegen den Rassismus nicht im Rahmen der kommunistischen Partei bzw. des ANC führten.
Die Islamisten in Ägypten wurden Jahrzehnte unterdrückt. Sie kamen unter Präsident Mursi an die Macht, weil die Menschen die Gewalt und die Korruption des diktatorischen Systems leid waren. Kaum an der Macht, begann Präsident Mursi seine Gegner ebenso schlimm zu verfolgen – und wurde ebenso korrupt.
Im Irak rächten sich die unter Saddam Hussein schwer verfolgten Schiiten, nachdem sie durch eine demokratische Wahl die Mehrheit im Parlament bekommen hatten, unter Präsident Nuri al-Maliki, der allmählich Hussein immer ähnlicher wurde. So wurden Sunniten zu Hunderttausenden aus Bagdad vertrieben und Bürgerkrieg der Schiiten gegen die Sunniten geführt, ein wesentlicher Grund, warum heute viele Sunniten den ‚Islamischen Staat‘ unterstützen.
Selbst Opfer ethnischer ‚Säuberungen‘ können zu einer Partei (etwa einer ethnischen oder einer religiösen Gruppe) gehören, die in anderen Ländern als Mehrheit Gewalt gegenüber Minderheiten angewendet hat oder anwendet. Ja, als Folge eines geplanten Bevölkerungstausches ist es öfter geschehen, dass die, die in der einen Region Täter und Opfer sind, in der anderen Region umgekehrt Opfer und Täter sind. Auch kann es bei Verschiebungen von Machtverhältnissen aus Rache dazu kommen, dass Täter und Opfer die Rollen tauschen.
An die Macht gekommene Minderheiten beweisen oft – natürlich nicht immer –, dass sie an der Macht genauso intolerant sind wie ihre Gegner, als diese die Macht hatten.
Ich habe seit vielen Jahren – trotz allem Einsatz für religiöse Minderheiten – vertreten, und das gilt auch für die, der ich selbst angehöre: Wie eine Religionsgemeinschaft oder Weltanschauung zur Religionsfreiheit steht, zeigt sich erst wirklich, wenn sie an die Macht kommt oder in einem Land die Mehrheitsreligion mit Zugang zum Staat darstellt. Eine Minderheit hat immer gut reden, solange sie sowieso keinen Zugang zur Macht hat. Und nicht selten fordert bei einer Religion eine Minderheit in einem Land Freiheit, während eine Mehrheit derselben Religion in einem anderen Land Minderheiten eben diese Freiheiten nicht zukommen lässt.
Schutz der neuen Minderheit
Zurück zu Tammy Bruce: Reicht es der homosexuellen Minderheit tatsächlich nicht, dass sie die politischen Vorzeichen zu ihren Gunsten umgekehrt hat? Wollen sie etwa erreichen, dass Andersdenkende eben nicht mehr anders denken und ihre Meinung nicht mehr frei äußern dürfen – sondern für ihr Denken vom Staat bestraft werden?
Noch einmal Hillgruber:
„So weit scheint es mittlerweile auch schon im Streit um die ‚Normalität‘ von Homosexualität gekommen zu sein. Obwohl es sich um eine kleine Minderheit handelt, die in einer Demokratie eigentlich durchsetzungsschwach sein müsste, ist es der Gruppe der Homosexuellen in Deutschland, im westlichen Europa und in Nordamerika dank einer eindrucksvollen Lobbyarbeit gelungen, ihre Agenda voller Gleichberechtigung und Gleichstellung mit der heterosexuellen Mehrheit zu einer Agenda der Mehrheitsgesellschaft zu machen. Der politische Erfolg ist durchschlagend und vollständig: Homosexuelle genießen hier volle Freiheit und Gleichheit, und wo es noch letzte Restbestände von ‚diskriminierender‘ Ungleichheit geben sollte, werden sie in kürzester Zeit mit oder ohne verfassungsgerichtliche Hilfe verschwinden. Auch der relativ rasche Umschwung in der öffentlichen Meinung könnte kaum deutlicher sein: Homosexualität gilt im Westen längst den meisten als ‚ganz normal‘. Nur noch eine kleine Minderheit sieht dies anders.“
„… was als legitimer Kampf gegen Stigmatisierung und Unterdrückung sowie für freie Entfaltung nach Maßgabe selbstbestimmter sexueller Orientierung begann, zeigt mittlerweile unverhohlen selbst eklatant freiheitsfeindliche Tendenzen zu Lasten Dritter, die alarmieren müssen. Aus einem berechtigten Freiheitsanliegen droht der Versuch einer Umerziehung mit staatlichem Befehl und Zwang zu werden. Es genügt der Lobby der Homosexuellen nämlich nicht, dass sie die Entfaltungsfreiheit für ihre Klientel und die Meinungsführerschaft erstritten hat, sie will jetzt der Minderheit, die noch immer eine abweichende Meinung vertritt, die Freiheit nehmen, Homosexualität weiterhin negativ zu bewerten und ihr Verhalten gegenüber Dritten an dieser Bewertung zu orientieren.“
Hillgruber sieht dabei die Gewissensfreiheit in Gefahr:
„Schlimmer noch als diese Tatsache ist, dass Gerichte bereit sind, dieser unter der Fahne der ‚Antidiskriminierung’ gebieterisch vorgetragenen, freiheitswidrigen Forderung nachzugeben. … Es wird Zeit, daran zu erinnern, dass auch andere Personen als Homosexuelle Freiheit und Würde haben und daher nicht gegen ihr religiös oder anders begründetes Gewissen gezwungen werden dürfen, praktizierter Homosexualität im Wortsinne wie im übertragenen Sinne Raum zu geben. Diese Gewissensfreiheit ist auch nicht etwa nur auf das Forum Internum und die Privatsphäre beschränkt. Sie umfasst vielmehr auch die äußere Freiheit, das gesamte Verhalten an der eigenen moralischen oder religiösen Überzeugung auszurichten und dieser Überzeugung gemäß in der Öffentlichkeit zu handeln. Wenn es richtig ist, dass die Freiheit des einen da endet, wo die des anderen beginnt, kann niemand die Verwirklichung seiner Freiheit unter Inanspruchnahme einer dazu wegen ihres Gewissens nicht bereiten anderen Person begehren. Wenn sich solche Beschränkungen der gewissensgeleiteten Handlungsfreiheit … im Westen durchsetzen sollten, dann dürfte hier bald auch die Meinungsfreiheit derjenigen, die homosexuelle Praxis für unsittlich halten und dies, horribile dictu, auch noch auszusprechen wagen, in Gefahr sein. Der Angriff auf die Meinungsfreiheit wird dadurch vorbereitet, dass man all diejenigen, die Homosexualität noch immer negativ bewerten, sämtlich als ‚homophob’ bezeichnet, womit ihnen eine schlechthin irrationale ‚gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit’ aus Angst attestiert werden soll. Es versteht sich dann schon fast von selbst, dass dafür keine Meinungsfreiheit in Anspruch genommen werden darf. Doch genau diese Freiheit, auch in Sachen Homosexualität eine von der überwiegenden Meinung abweichende Ansicht äußern zu dürfen, gilt es entschieden zu verteidigen. Denn Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden.“
Hillgruber schließt mit den Worten:
„Es ist das gute Recht Homosexueller, ihre Homosexualität zu leben. Aber sie können nicht verlangen, dass auch alle anderen ihre Lebensweise für ein gutes Leben halten und positiv bewerten oder sich andernfalls einer Bewertung gänzlich enthalten. Nein, sie müssen sich, wie jeder andere, auch gefallen lassen, dass ihr Lebensstil von anderen anders, auch negativ moralisch bewertet wird. Dies hindert sie ja nicht an ihrer Freiheitsausübung und tastet, sofern die negative Bewertung nicht den Charakter einer persönlichen Beleidigung annimmt, auch nicht ihre Menschenwürde an. Umgekehrt müssen es die Gegner der Homosexualität hinnehmen, für ihre Haltung – auch scharf – kritisiert zu werden. Das ist Teil des geistigen Meinungskampfes mit der wechselseitigen Zumutung konträrer Ansichten.“
David und Goliath
Wenn grüne Abgeordnete im Bundestag fordern, bestimmten evangelikalen oder katholischen Organisationen jede Art der finanziellen Unterstützung, die Gemeinnützigkeit usw. zu entziehen, ist das zwar noch gegen das geltende Recht, lässt aber tief blicken. Dabei geht es meines Wissens um zwei Organisationen mit jeweils zwei Angestellten! Gleichzeitig findet man aber keine Worte über islamistische Theologen, die – auch in Deutschland – die Todesstrafe für Homosexuelle fordern.
Diese Bundestagsabgeordnete der Opposition (2015) erwecken in Kleinen Anfragen im Bundestag den Eindruck, als wenn die Evangelikalen und papsttreuen Katholiken als Vertreter des Establishments die Minderheit der Homosexuellen verfolgen. Damit stellen sie die Tatsachen auf den Kopf. Denn die Evangelikalen und papsttreuen Katholiken stellen nicht nur rein zahlenmäßig offensichtlich eine Minderheit in Deutschland dar, denen der Großteil der Bevölkerung und der Medien – ja der Anhänger der eigenen Religion im weiten Sinne – an der Seite der Homosexuellen negativ eingestellt gegenüberstehen, sondern sie haben auch keinen oder kaum Zugriff auf politische oder wirtschaftliche Macht. Und die homosexuelle Minderheit von einst ist in den Ländern des Westens längst an den Schalthebeln der Macht, etwa der Exekutive, der Legislative und auch der Judikative (der Richter) und zunehmend auch der Wirtschaft angekommen. Die Anliegen der LSBT werden auf allen politischen Ebenen mit gewaltigen Beträgen aus dem Steueraufkommen unterstützt, die angesprochenen christlichen Gruppen finanzieren sich fast völlig aus eigenen Spenden.
Homosexuelle und traditionsverbundene Christen, das ist wie David und Goliath, aber die Macht des Goliath in Politik, Finanzen und Medien ist eher auf Seiten ersterer.
Es gab und gibt bekennende Homosexuelle als Chefs von Bundesländern, als Parteivorsitzende und in vielen anderen politischen und gesellschaftlichen Spitzenstellungen, von den Medien und der Unterhaltungsindustrie einmal gar nicht zu sprechen. Homosexuelle und ihre Unterstützer stürzen Kandidaten für EU-Kommissariate und andere politische Ämter. Den Homosexuellen stehen praktisch alle Medien weit offen, den konservativen Christen nicht, denn sie werden zwar gelegentlich von den Medien wohlwollend interviewt, die ablehnende Berichterstattung überwiegt aber.
Die Homosexuellen sind keine Minderheit mehr, sie sind längst an der Macht beteiligt. Denn eine Minderheit definiert sich nicht einfach darüber, dass sie weniger als die Hälfte der Bevölkerung ausmacht, sondern ob sie Macht hat oder der Macht anderer ausgeliefert ist, das heißt auf den Schutz anderer angewiesen ist.
Sind die Vorstände deutscher Aktiengesellschaften eine Minderheit, weil sie zahlenmäßig nur einen Bruchteil der deutschen Gesellschaft ausmachen? Sind die wenigen Bundes- und Landtagsabgeordneten eine Minderheit? Nein, denn beide Gruppen verfügen über mehr Macht, Eingriff und Zugriff auf Finanzen als Millionen anderer zusammen.
Das ist eine Erkenntnis, die auch Befürworter von Homosexualität deutlich aussprechen. Der schon zitierte Bonner Juraprofessor Christoph Hillgruber:
„Grundrechtsschutz, so heißt es allenthalben, ist Minderheitenschutz. Doch wer schutzbedürftige Minderheit ist, steht nicht ein für alle Mal fest, sondern wandelt sich mit der Entwicklung einer Gesellschaft. In den westlichen Gesellschaften sind es mittlerweile schon weniger die Homosexuellen als vielmehr diejenigen, die Homosexualität für moralisch fragwürdig und homosexuelle Praxis für anstößig halten, deren Freiheit, anders zu denken und in Übereinstimmung mit ihrer inneren Überzeugung zu leben, gefährdet erscheint. Doch ihre Freiheit verdient nicht weniger Respekt und Schutz.“
Hybris
Die Emanzipation der gleichgeschlechtlichen Minderheiten kommt nach Wolfgang Büscher jetzt in die dritte Stufe, die „Hybris“:
„Sie scheint einem Muster zu folgen, man könnte es das H-Muster nennen. Es hat drei Stufen.
H1 – die Zeit der Härte. Homosexuelle sehen sich in ein quälendes Doppelleben voller Lügen und Ängste verbannt, Schwarze in separate Viertel und Sitze im Bus. In manchen Ländern werden behinderte Kinder verborgen oder sogar getötet.
Es folgt H2 – die heroische Zeit. Der Punkt ist erreicht, an dem die Drangsalierten nicht mehr in Lüge und Elend leben wollen, was mit harten Kämpfen einhergeht, die dann einen Befreiungsmythos begründen. So wie die legendäre Weigerung der Schwarzen Rosa Parks 1955 in Alabama, für eine Weiße im Bus aufzustehen. Oder die Straßenschlachten 1969 in New Yorks Christopher Street, das Fanal des Ausbruchs der Homosexuellen aus ihrer heimlichen Parallelwelt. Dieser Tage wird die Erinnerung daran wieder mit stolzen Paraden beschworen.Denn längst sind wir in Phase H3: Versuchung der Hybris.“ (Wolfgang Büscher. „Die grenzenlose Emanzipation einer Minderheit“. Die Welt 13.6.2013.)
Die Homosexuellen werden sich also daran messen lassen müssen, wie sie als Mitinhaber der Macht mit der Macht umgehen. Sie werden sich daran messen lassen müssen, ob sie die Rechte und Toleranz, die sie für sich erstritten haben, allen Anderen zugestehen, auch denen, die ihnen ‚fremd‘ und ‚anders‘ erscheinen.
Das gilt auch untereinander. Schaut man, mit welcher Rigidität in Deutschland die Befürworter der Ehe für gleichgeschlechtlich Paare ihre homosexuellen Gegner, die das für eine Verbürgerlichung der Schwulenbewegung halten, ‚untergebuttert‘ haben, ist man erschrocken.
In Frankreich sind unter den Millionen, die gegen die ‚Homo-Ehe‘ demonstriert haben, auch sehr viele Homosexuelle gewesen, die gegen die ‚Homo-Ehe‘ sind. Bei uns werden solche Stimmen mundtot gemacht, sowohl, weil sie nicht die offizielle Parteilinie verfolgen, als auch, weil ein Zusammengehen mit konservativen oder religiösen Kräften dieser Art undenkbar, ja gewissermaßen verboten ist: Das macht man als anständiger Homosexueller einfach nicht!
„Als der Streit über die Homo-Ehe auf Frankreichs Straßen so explosiv und massenhaft ausbrach, schaute Deutschland sprachlos über den Rhein. Je lauter die Empörung aus Frankreich herübertönte, desto hörbarer wurde die Stille hier. Als ob Franzosen und Deutsche in verschiedenen Welten lebten.“ (Büscher)
Die Wortwahl, Polemik und Schärfe der Verurteilung auch innerhalb der politischen Richtungen der Homosexuellenbewegung spricht jedenfalls dafür, dass hier mit knallharten Bandagen die Freiheit anderer bestritten wird. (Siehe als Beispiel den Streit zwischen BVH und LSVD nach Wikipedia, Stand 23.8.2015.)
Warum kann man nicht mit den paar Andersdenkenden leben?
Warum kann man nicht akzeptieren, dass es in Deutschland eine Minderheit frommer Leute – evangelisch-evangelikale, katholisch und orthodoxe gibt (jüdische und muslimische Mitbürger und Mitbürgerinnen müsste man ebenso erwähnen, aber sie werden nie zur Zielscheibe – man denke etwa an die jüdische Organisation JONAH), für die jede Sexualität außerhalb der Ehe falsch ist? Warum muss man da das Gewaltmonopol des Staates gegen sie zu Hilfe rufen?
Denn Fakt ist: Obwohl ein großer Teil an Kirchen und Christen jede Sexualität außerhalb der Ehe für außerhalb des Willens Gottes halten und in der Ehe auch nur solche Sexualität gutheißen, die einvernehmlich geschieht, gibt es keine hasserfüllten Reaktionen von Teenagern, Pornografienutzern, Bordellbesuchern, Seitensprung Praktizierenden oder Seitensprung Vermittelnden, gegen solche Christen.
Millionen Menschen leben in ‚wilder‘ Ehe, ohne konservative Christen zu brandmarken und im Bundestag ein Einschreiten der Bundesregierung zu verlangen. Millionen von Menschen lassen sich scheiden, ohne gewalttätig gegen christliche Veranstaltungen zu demonstrieren, auf denen auch seelsorgerlich vor Scheidungen gewarnt und Scheidungsopfern Hilfe angeboten wird. Die Pornoindustrie lässt die Frommen gewähren, obwohl diese zu ihren schärfsten Kritikern gehören. Warum können das Vertreter anderer Forderungen im Bereich der Sexualität nicht ebenso handhaben?
Zu guter Letzt, damit mich keiner missversteht: Was ich hier sage, gilt für Deutschland, Großbritannien, die USA und etliche andere westliche Länder. Es gilt nicht für die Regionen, in denen Homosexuelle nach wie ihres Lebens nicht sicher sind oder sonst wie verfolgt werden wie in weiten Teilen Afrikas oder der islamischen Welt. Es gilt etwa nicht für Länder, in der die Homosexuellen nach wie vor eine verfolgte Minderheit sind und alle Kirchen (nicht nur die Evangelikalen, wie es in Deutschland gerne einseitig hingestellt wird, die aber leider auch) daran beteiligt sind.
„Was für ein Kontrast. Macht und Ohnmacht einer Minderheit im selben Moment, dort Verfolgung, hier ein Privilegierungsschub.“ (Büscher)
Sex in der Ehe und nur in der Ehe?
Die katholische Kirche, die orthodoxen und altorientalischen Kirchen, die evangelikal geprägten und die meisten nichtwestlichen protestantischen Kirchen, das heißt also die große Mehrheit der weltweiten Christenheit von 2,5 Milliarden Anhängern, halten Homosexualität wie überhaupt jedwede Sexualität außerhalb der Ehe und jedwede unfreiwillige Sexualität in der Ehe für nicht mit dem Willen Gottes vereinbar. Dass viele Christen in einer Gesellschaft leben, die den Bereich der Sexualität völlig anders sieht, teilen sie mit fast allen Christen seit neutestamentlicher Zeit in vielen Zeiten und Kulturen.
In einer Demokratie halten sie sich an diesbezügliche Gesetze, selbst dort, wo sie sie demokratisch und ohne Gewalt zu ändern suchen. Aber in einem demokratischen Rechtsstaat haben sie einen Anspruch darauf, dass sie weder von Verfechtern einer Ehe ohne Trauschein noch von Verfechtern einer gleichgeschlechtlichen Ehe gezwungen werden dürfen, so zu denken oder zu leben wie sie. Denn die Religionsfreiheit, die Meinungsfreiheit und das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben gelten ja auch für sie.
Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass religiöse Körperschaften und Bewegungen nicht wie politische Gruppierungen ihr Programm jährlich anpassen und auf Zuruf oder Stand der Meinungsumfragen moralische Positionen ändern. Es ist auch immer wieder nachgewiesen worden, dass Religionsgemeinschaften davon leben, dass sie moralische Standards vorgeben und nicht der Beliebigkeit preis geben.
Die Kirchen haben sich derzeit in vielen Ländern auf die völlige neue Situation einzustellen, dass Gesellschaft und Staat Homosexualität nicht mehr verurteilen, sondern schützen. Es macht mehr Sinn, ihnen Zeit zu geben, sich damit auseinanderzusetzen, als sie zu kriminalisieren. Alle Kirchen in westlichen Ländern, auch die Evangelikalen, haben sich ja zum Beispiel völlig von dem Gedanken verabschiedet, Homosexualität in irgendeiner Form strafrechtlich zu bestrafen oder staatlicherseits auch nur zu verurteilen.
All diese Christen sind der Meinung, dass Gott die Sexualität als Krönung der Schöpfung für die Dauerbeziehung von Mann und Frau geschaffen hat. Sie glauben, dass erfüllte Sexualität in die Ehe gehört. Sie helfen auch vielen Menschen, die das nicht so leben. Sie sprechen sich gegen sexuellen Missbrauch von Kindern aus, gegen Vergewaltigung in der Ehe, ja sie sehen es selbstkritisch und leiden darunter, dass es all das auch in ihrer Mitte gibt. Sie bieten Hilfe und Vergebung an. Sie betreuen in Afrika und Asien Millionen von HIV- und AIDS-Betroffenen, gleich ob deren sexuelle Praktiken mitverursachend waren oder nicht. Aber grundsätzlich bleibt es dabei, dass sie friedlich und seelsorgerlich dafür eintreten, dass Sexualität in eine harmonische und verlässliche heterosexuelle Langzeitbeziehung gehört.
Übrigens hat die Evangelische Allianz in Deutschland (EAD) klargestellt, dass sich aus ihrer Sicht keine Diskriminierung von Homosexuellen ableitet. In ihrem politischen Manifest „Suchet der Stadt Bestes“ heißt es:
„Wir wenden uns ebenso gegen die Diskriminierung aufgrund des Geschlechts und der geschlechtlichen Orientierung, auch angesichts der verhängnisvollen Unterdrückung der Homosexuellen im Dritten Reich. Wir begegnen Vertretern einer anderen geschlechtlichen Orientierung mit Respekt und Würde, sehen allerdings praktizierte Homosexualität – wie andere Formen der außerehelichen Sexualität – grundsätzlich als unvereinbar mit der für den christlichen Glauben maßgebenden biblischen Ethik an. Wir wenden uns außerdem gegen Versuche, gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften der im Grundgesetz herausgehobenen klassischen Ehe gleichzustellen, auch wenn wir respektieren, dass sich das Rollenverständnis der Geschlechter im Laufe der Geschichte immer wieder verändert.“ (Deutsche Evangelische Allianz. Suchet der Stadt Bestes (vgl. auch hier). Bad Blankenburg, 2010.)
Ein Kommentar
Vielen Dank für diese aufschlussreichen Gedanken. Sehr gut gewählt ist auch die Verwendung der Beobachtungen einer Kritikerin aus den eigenen Reihen. Dies hilft auch denen, weiter zu lesen, die ansonsten gleich abgeschaltet hätten.