Gerhard Lindemann. Die Geschichte der Evangelischen Allianz im Zeitalter des Liberalismus (1846-1879). Theologie: Forschung und Wissenschaft Bd. 24. Lit Verlag: Münster, 2011. 1064 S. 129,90 €

Seit meiner Dissertation zu Theodor Christlieb von 1985 und der kurz darauf erschienenen Arbeit von Hans Hauzenberger hat zwar der methodistische Forscher Karl-Heinz Vogt zu Christlieb selbst und zum Thema Allianz und Religionsfreiheit einiges Neue beigetragen, aber insgesamt fehlten die großen Fortschritte in der Forschungsgeschichte zur Allianz in Deutschland seit 25 Jahren, ja für die Zeit vor dem 2. Weltkrieg weltweit. Auch zur Frühgeschichte der Weltweiten Evangelischen Allianz ist länger nichts substantiell Neues erforscht worden. Und auch zur Geschichte der Religionsfreiheit im 19. Jahrhundert allgemein haben sich die Forscher nicht gerade überschlagen. Und nun dieses ausgezeichnete Mammutwerk!

Ein großformatiges Buch mit 947 Seiten reinem Text mit großem Satzspiegel und kleiner Schrift: Die Heidelberger Habilitationsschrift von 2004 wird dem Ruf, das die Deutschen die dicksten aller Bücher schreiben, gerecht. Bisweilen detailversessen, alles minutiös aus den Akten und zeitgenössischen Zeitungen belegend, wird das Buch dadurch zu der gründlichsten (und besten) Darstellung der Vor- und Frühgeschichte der Evangelischen Allianz. Die Weltweite Evangelische Allianz vertritt heute 600 Mio. Christen weltweit, davon nur noch ein Bruchteil deutscher Zunge. Schade, dass dem größten Teil dieser Menschen deswegen dieser Schatz verborgen bleiben wird, denn eine englische Übersetzung dieser Textmenge wäre zwar dringend erforderlich, ist aber leider sehr unwahrscheinlich.

Das Werk behandelt, soweit aus den Quellen rekonstruierbar, 1. die eigentliche Geschichte wie Versammlungen, Kampagnen und internationale Ausbreitung, die jeweils in die große Zeitgeschichte eingeordnet werden, 2. die Rolle der entscheidenden Persönlichkeiten, und 3. die Arbeitsschwerpunkte der Allianz (dabei vor allem Glaubens- und Gewissensfreiheit, Gebetswoche, Mission, Publikationen). Wer dabei eine einzelne Thematik verfolgen möchte – etwa die Geschichte der internationalen Allianzgebetswoche jeweils zu Beginn des Jahres –, kann dies über die übersichtliche Gliederung und den Index sehr gut tun. Auch wer die Geschichte der Allianz bis 1879 in solch unterschiedlichen Ländern wie Großbritannien, England, Deutschland, den skandinavischen Ländern, Kanada, Australien, Südafrika, Türkei, Iran, Indien oder Japan verfolgen will, wird hier fündig.

Zu vielen Details findet sich hier erstmals ein Beleg (z. B. Einsatz der frühen Evangelischen Allianz für Tierschutz) und selbst zu Christlieb habe ich Neues gefunden, dass meine Dissertation ergänzt (Christlieb und Versöhnung mit Frankreich in New York [747-752], Christliebs Einsatz gegen Opiumhandel [856-858], Geschichte der Westdeutschen Evangelische Allianz [921-922].)

Lindemann sieht die Allianz gleich zu Beginn als erste organisierte Form der Ökumene, als einzig wirklich ökumenische Organisation, die aus der Erweckungsbewegung des 19. Jahrhunderts entsprang (15). Er weist nach, dass die Allianz selbst in ihren frühen Dokumenten häufig das Wort „ecumenical“ verwendete (938 u. ö.). „Sie schuf ein Klima, das die Gründung von Vorgängerorganisationen des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) ermöglichte.“ (945). Er kritisiert, dass geschichtliche Darstellungen der modernen Ökumene oft sehr spät einsetzen und sowohl die Allianz als auch einige ihrer führenden Vertreter als Vorreiter der Einheit der Christen übergeht (21).

Lindemann sieht die Allianz als Teil der transnationalen Frömmigkeitsbewegung der Erweckungen nach dem Pietismus (25), die man nicht einfach pauschal als „antiaufklärerisch“ oder „antimodern“ beurteilen darf (25), sondern die etwa in Fragen der Religionsfreiheit oder des Antisklavereikampfes (28-29) auch ihrer Zeit voraus war. Gespeist aus Erweckungen in ganz unterschiedlichen Sprach- und Kulturkreisen zeichnete sie sich wie der Pietismus „durch ein weitverzweigtes Netz internationaler Kontakte und Verbindungen aus“ (33).

Ob man die Gründung ökumenischer Strukturen unabhängig von der Allianz wirklich allein auf die „zunehmende ‚Fundamentalisierung‘ der Allianz 1880“ (945) in Form der Ablehnung der Bibelkritik und der Zuwendung zur Heiligungsbewegung zurückführen kann, wie Lindemann ganz am Ende eher beiläufig sagt, wage ich zu bezweifeln. Ich vermute, dass eine ebenso gründliche Arbeit zur Zeit nach 1880 ebenso eine andere ‚Allianz‘ hervortreten ließe, wie die Allianz, die Lindemann bis 1879 darstellt, ebenso dem gängigen Klischee nicht entspringt. Doch Lindemann hat Recht, wenn er fortfährt: „Doch lebte das Gedankengut der Allianz in der Ökumene fort.“ (946). Überhaupt passen die Schlussworte zur Evangelischen Allianz heute, die eine gute frühe und eine schlechtere spätere und heutige Allianz andeuten, nicht so ganz zum Duktus des Buches. Aber nach 945 überaus fairen Seiten in der Darstellung der Allianz aus den Quellen sollte man diese verhaltene Kritik liebevoll beherzigen, zumal die daraus gezogenen Empfehlungen schon teilweise umgesetzt werden.

Insgesamt schreibt Lindemann aus freundlich-kritischer Distanz. So kritisiert er etwa die große Nähe vieler Evangelikaler zum herrschenden Adel in der Zeit der Revolutionen 1848/49 (152-158), worin die Evangelikalen sich nicht von den Kirchen ihrer Zeit unterschieden.

Häufiger hilft er, positive Bilder zu differenzieren. So bestand etwa schon bei Gründung der Evangelischen Allianz Einigkeit in der Verurteilung der Sklaverei – der Kampf gegen die Sklaverei gehörte unverrückbar zur Geschichte der ‚Evangelicals‘, aber inwiefern Sklaverei duldende Gruppen und Personen Mitglied werden durften, war diesseit und jenseits des Atlantischen Ozeans umstritten (65-72, 110-129, 159). 1846 wurden sie alle ausgeladen, später teilweise zugelassen, dann mit der Abschaffung der Sklaverei in den USA endgültig verbannt (693). Noch nie wurden diese komplizierten Details im Einzelnen belegt.

Auch zur Entstehung des Glaubensbasis wird viel neues Material geliefert. „Man verstand sich als eine Verbindung von Einzelpersonen und legte in diesem Zusammenhang auf die persönliche Glaubensentscheidung des Einzelnen Wert und betonte das Recht auf individuelle Bibellektüre. Mit diesem Grundaxiom hing auch die scharfe Abgrenzung vom Katholizismus sowie hochkirchlichen Gruppierungen im Protestantismus zusammen, die Sakramente und die Institution Kirche als objektiv vorgegebene Größen betrachteten und der Entscheidung des Einzelnen voranstellten. Hingegen galt für die Allianz in ihrer in London verabschiedeten ‚Glaubensbasis‘ die göttlich inspirierte Schrift als sakrosankt, deren freie Prüfung dem Einzelnen jedoch zugestanden wurde.“ (205)

Spannend ist die Entstehung der ersten Glaubensbasis (87-98). Meines Erachtens hätte man noch deutlicher darauf hinweisen können, dass die beiden ersten Sätze eine bis heute zentrale Spannung bewirken:
„1.The Divine Inspiration, Authority, and Sufficiency of the Holy Scriptures.
2. The Right and Duty of Private Judgement in the Interpretation of the Holy Scriptures.“ (98).
Einerseits ist dies eine unverückbare Festlegung, andererseits eine extremer Pluralismus, der jeden Gläubigen verpflichtet, die Grundlage selbst auszulegen.

Exkurs: Die Evangelikalen sind durch zwei Paare entgegengesetzter Pole gekennzeichnet und man wird ihnen nicht gerecht, wenn man jeweils nur einen der Pole sieht.

Einerseits ist das die von den Evangelischen ererbte Zentralität der Heiligen Schrift. Andererseits ist es der aus Luthers Frage ‚Wie bekomme ich einen gnädigen Gott‘ hervorgegangene Heilsindividualismus. Es geht darum, dass jeder Mensch seine persönliche Beziehung zu Gott hat und daraus ergibt sich als Korrektur zur Zentralität der Schrift die Berechtigung, ja Verpflichtung jedes Christen, die Heilige Schrift selbst zu studieren und auszulegen, womit er mit jedem noch so gebildeten evangelikalen Theologen, auch seinem Pastor, gleichauf steht. So vereint die evangelikale Welt die dogmatische Enge dank der Bibelfrage mit einer enormen demokratischen Weite, weil jeder theologisch mitreden darf.

Die zweite Spannung ist die zwischen Mission und Religionsfreiheit. Aus der enormen Betonung der persönlichen Beziehung zu Jesus entstand sowohl die starke Betonung der „Zeugnispflicht“ als auch die starke Betonung der Religionsfreiheit. Das Konzept der Freiwilligkeit prägte nicht nur die Freikirchen, sondern auch den innerkirchlichen Pietismus, für den Glaube nicht nur etwas Äußerliches, Ererbtes sein dürfte, sondern etwas persönlich Erfahrenes. Dazu aber kann man niemand zwingen, ja Zwang macht die Möglichkeit zunichte, eine wirklich eigenständige, persönliche Umkehr zu Gott zu vollziehen. Also lieber eine kleinere Kirchen mit überzeugten Mitgliedern, also eine große mit vielen Mitgliedern, die nur dank gesellschaftlichem, familiärem oder sonstigen Druck dazugehören.

Neubestimmung des Verhältnisses der Evangelischen Allianz zur katholischen Kirche

Lindemann geht auf die antikatholischen Tendenzen und Aktivitäten in Großbritannien ein, in denen die Allianz zum Teil wurzelt (45-50). Allerdings weist er schlüssig nach, was mein größtes Aha-Erlebnis beim Lesen des Buches war: Es waren kaum die dogmatischen Unterschiede, die im Mittelpunkt standen, sondern die Allianz repräsentierte mit ihrem Eintreten für Glaubens- und Gewissensfreiheit, ihrer teilweise radikalen, teilweise noch verhaltenen Trennung von Kirche und Staat und ihrer Vorangstellung der freiwilligen persönlichen Bekehrung – was jeden Zwang in der Mission oder religiösen Zwang seitens des Staates ausschloss – das komplette Gegenteil zur ultramontanistischen katholischen Kirche, die Religionsfreiheit entschieden verwarf, den Staat als Diener der Kirche zumindest in Fragen von Religion und Ethik sah und die örtlichen Katholiken stärker denn je an die geistliche, aber auch politische Führung des Papstes band – alles Positionen, die die katholische Kirche offiziell erst im 2. Vatikanischen Konzil aufgab, aber schon nach den beiden Weltkrieg jeweils immer mehr zurückfahren musste. So wie es im bismarckschen Kulturkampf in Deutschland weniger um Glaubensinhalte, also um die Machtfrage und den politischen Einfluss der Kirche(n) ging, so stand im Zentrum der Allianz – so Lindemann –, dass der Ultramontanismus „als eine Verschwörung gegen die geistige Entwicklung und geistige Freiheit des Menschheit“ (49) erachtet wurde (321-337).

Konsequenterweise setzte man sich vom Gründungsjahr an auch für verfolgte Katholiken in protestantischen Ländern ein und unterstützte antikatholisch orientierte Regierungen nicht in ihrem Tun (205). Übrigens wurde 1846 bewusst bei der Gründung keine Nichtzulassung von Katholiken formuliert (131). Als sich die Allianz 1858 mit einer Delegation gegen Schweden wandte, dessen oberstes Gericht, der Königliche Gerichtshof, 6 Frauen, die zum Katholizismus konvertiert waren, des Landes verwiesen hatte, und die Allianz Religionsfreiheit für diese Katholiken forderte, gab es europaweit einen Sturm der Entrüstung außerhalb der Allianz (295-300). Die Allianz war wesentlich daran beteiligt, dass der schwedische Reichstag die Strafen für das Verlassen der lutherischen Staatskirche 1860 abschaffte.

Lindemann schreibt: „Durch ihre Konzentration auf dogmatische und geistliche Elemente unterschied sich die Allianz von anderen anti-katholischen Gruppierungen. Überdies machte das Engagement für die waadtländische Freikirche deutlich, dass die Vereinigung sich nicht von einem blinden Katholikenhass leiten ließ, sondern sich auch gegen eine diplomatische und militärische Unterstützung von Regierungen aussprechen konnte, die das Prinzip der Religionsfreiheit nicht achteten, auch wenn sie sich mit dem Katholizismus im Konflikt befanden. Sir Culling Eardley stellte in diesem Zusammenhang klar, dass politische Freiheit ohne Religionsfreiheit undenkbar und auch nicht unterstützenswert sei – nach Auffassung des Londoner Allianzkomitees handelte es sich dabei 206um das ‚heiligste unter den Menschenrechten‘.“ (205-206)

„Die Evangelische Allianz erwies sich bereits in ihrer Gründungsphase keineswegs als eine rein antikatholische Bewegung. Vorrangig war das Interesse an einer Einheit unter den Christen, während aktuelle Ereignisse und Entwicklungen eher als auslösende Faktoren für den Schritt zu dem protestantischen Zusammenschluss anzusehen sind. Als wesentliche Ziele galten die Evangelisation der Welt sowie, vor allem aus amerikanischer Perspektive, auch der Wunsch, durch die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zum Frieden unter den Völkern beizutragen.“ (205)

Neues zur Geschichte der Religionsfreiheit

Als das herausragende Thema der Allianz erweist Lindemann den Einsatz gegen Verfolgung aus religiösen Gründen und für die Religionsfreiheit, die noch nie so gründlich dargestellt wurde (bes. 141-151, 205-321, 592-645, 773-811, 858, 868-913). Besonders interessant sind auch die Erkenntnisse zum Einsatz der Allianz für die Religionsfreiheit, die Lindemann aus den Akten des britischen „Foreign Office“ gewann.

Am stärksten waren die Jahre 1849 bis 1858 vom Einsatz für aus religiösen Gründen Verfolgte im Mittelpunkt (207), da die Allianz sich zunutze machte, dass Außenpolitik Theme der Presse und der entstehenden Parlamente wurde (207).

Wählen wir als Beispiel den Einsatz für einen vom Katholizismus zum Protestantismus konvertierten Italiener Signor Giacinto Achilli (1803-1893), der deswegen lebenslänglich von der römischen Inquisition inhaftiert war und der in einem fast einjährigen diplomatischen Tauziehen unter Beteiligung des britischen und französischen Außenminister, der Medien, der eigenen Zeitung und zahlreichen Delegationen schließlich durch einen Trick von den Franzosen aus Rom befreit und nach England überstellt wurde (208-223).

Vorgänge wie diese stellt Lindemann wiederholt minutiös dar. Sie wurden, wenn sie überhaupt bekannt waren, bisher noch nie in ihren einzelnen Schritten nachvollzogen und belegen, wie gut organisiert, mit Regierungen und Medien vernetzt und ihrer Zeit voraus dieser Aspekt der Evangelischen Allianz war.

Lindemann schreibt: „Bei ihrem Einsatz für aus Glaubensgründen Benachteiligte profitierte die Allianz eindeutig von der zunehmenden Pluralisierung vor allem der britischen Gesellschaft und der Entstehung einer breiteren Medienöffentlichkeit, die die Einflussnahme von ‚Pressure Groups‘ auf außenpolitische Entscheidungsprozesse zuließ. Man merkte bald, dass in bestimmten Fällen das gemeinsame Agieren über Ländergrenzen hinweg noch Erfolg versprechender zu sein schien und, wie zum Beispiel erstmals im Fall des Italieners Achilli, zu einem gemeinsamen Handeln von Regierungen führen konnte. Zugleich konnte der Verweis auf die englische öffentliche Meinung Staaten von Repressionen auf Andersgläubige abhalten, sie beenden oder zumindest abmildern. Nicht nur durch den Gebrauch neuer Methoden in diesem Engagement hatte die Evangelische Allianz an einem Modernisierungsprozess des Protestantismus im 19. Jahrhundert einen Anteil.“ (943)

Die Britische Allianz erreichte etwa durch eine Denkschrift an den preußischen König gegen die Baptistenverfolung, dass der aus Berlin vertriebene Führer der Baptisten Johann Gerhard Oncken nach Berlin zurückkehren konnte (235-237). Mit Schreiben der britischen Königin und des preußischen Königs setzte man 1852 dem toskanischen Großherzog Leopold II in einer Audienz wegen der Inhaftierung eines Ehepaars namens Madiai zu. „Die Deputation stieß europaweit auf eine starke Resonanz“ (254). Und selbst der gestrenge Lutheraner Ernst-Wilhelm Hengstenberg, wahrhaftig kein Freund der Allianz, rühmte das Vorgehen, denn es habe den katholischen Vorwurf, die Protestanten seien hoffnungslos zerspalten, widerlegt. Hier habe man mit einer Stimme gesprochen (254). Die Sache weitete sich bis in die USA aus, andere italienische Fürsten wurden ebenso aktiv, wie der französische Kaiser, bis das Ehepaar Madiai schließlich nach einem Jahr 1853 freigelassen wurde. Besonders deutlich wird, wie eng der Gedanke einer Ökumene der Protestanten und der Religionsfreiheit verbunden war: Gemeinsamkeit macht stark.

Wie konfessionell großzügig man war, zeigt sich auch darin, dass man sich beim Sultan nicht nur für Konvertiten vom Islam zum Protesantismus einsetzte, sondern auch für die griechisch-orthodoxe Kirche (300). Im Iran setzte man sich für Nestorianer ein (610-613).

Nach der Hinrichtung eines Konvertiten 1853 aktivierte die Allianz in Zusammenarbeit mit der Türkischen Allianz ihre Kontake in zahlreichen europäischen Regierungen, bis schließlich 1856 Sultan Abdülmecid I. – sicher in Zusammenhang mit der komplizierten Politik zwischen dem Osmaischen Reich und der Westmächte – in einem Edikt den Protestanten größere Freiheiten zugestand und die Todesstrafe für Konversion abschaffte (300-319). 1874-1875 führte eine weitere große Kapagne eine Allianzdelegation bis zum türkischen Außenminister, Diplomaten sogar bis zum Sultan, deren Auswirkungen aber umstritten sind (879-902).

Lindemann schreibt, dass für die Niederschlagung der Prozesse gegen Pastoren im Baltikum durch den Zaren „der Londoner Vorstoß der Allianz verantwortlich gewesen“ sei (800). Das Verwirrspiel um den Versuch eines Treffens mit dem Zaren, der schließlich seinen Außenminister vorschickte, wird bei Lindemann aufgelöst (779-800).

Auch die Audienzen, die die Allianz beim preußischen König erhielt, etwa 1855 in Köln oder 1857 im Rahmen der Berliner Allianzkonferenz bei Friedrich Wilhelm IV. (286f), drehten sich immer um die Religionsfreiheit in Deutschland. Dasselbe gilt für Gespräche des Allianzsekretärs, die er mit dem deutschen Kaiser Wilhelm I. und dem Reichskanzler Otto v. Bismarck 1875 führte (919).

Eine Allianzdeputation bei Kaiser Franz Joseph I. in der Hofburg und anschließende Gespräche beim Ministerpräsidenten und beim Kultusminister im Jahr 1879 führten zu spürbaren Erleichterungen für Protestanten, 1880 sogar zu deren rechtlicher Anerkennung als Kirchen, sowie fast nebenbei zu Erleichterungen für die Freikirchen in Wien (913).

Dasselbe gilt auch für den Besuch der gesamten Teilnehmerschaft der New Yorker Konferenz beim amerikanischen Präsidenten Ulysses S. Grant und seinem Kabinett 1873 (755-756), nur dass die amerikanische Regierung nicht mehr von der Religionsfreiheit überzeugt werden musste.

Man bedenke, dass das alles zu einer Zeit geschah, als die angestammten Kirchen alle noch weit davon entfernt waren, ihren Staatskirchenstatus aufzugeben, geschweige denn Religionsfreiheit für alle zu gestatten, geschweige denn selbst zu fordern. Wenn Religionsfreiheit damals gefordert wurde, dann meist von Juden, religiösen Minderheiten und Atheisten, nicht aber von sehr religiösen Vertretern der vorherrschenden Religion. Welchen Beitrag die Evangelische Allianz zur Religionsfreiheit in Deutschland geleistet hat, ist bisher noch nirgends gewürdigt worden.

Grundsätzliches

Die Homburger Konferenz für Religionsfreiheit von 1853 war ein Meilenstein der Allianzgeschichte und der Toleranz in Deutschland und Europa (263-267). Zentrales Ergebnis war die Ablehnung jeder kirchlichen Gewalt gegen Separatisten und die Ablehnung jeglicher Inanspruchnahme staatlicher Gewalt durch Kirchen gegen andere (266) ein Meilenstein der Entwicklung des Rechtes auf Religionsfreiheit. Dies galt zudem bewusst nicht nur für Christen, sondern für alle Religionen, was natürlich zu internen Kontroversen und zu scharfer Kritik seitens protestantischer Staatskirchen führte (267-272), ohne dass die Allianz deswegen von dem Grundsatz abrückte.

1861 stellt ein französischer Pastor erstmals eine ganz neue These auf, die sich mehr und mehr in der Allianz durchsetze, dass nämlich „die Religionsfreiheit staatliche Ordnung und den ihr innewohnenden Frieden garantiert“ (592), Unterdrückung der individuellen Religionsfreiheit dagegen Revolution und Unfrieden nähre und dem Staat seine gottgegebende Grundlage entziehe!

Interessanterweise bestätigt eine internationale wissenschaftliche Untersuchung genau dies: Religionsfreiheit fördert eine friedliche Gesellschaft, deren Unterdrückung fördert Unruhe und Gewalt und praktisch alle religiös gefärbten terroristischen Bewegungen der Welt kommen aus solchen Ländern. [Brian J. Grim, Roger Finke. The Price of Freedom Denied: Religious Persecution and Conflict in the Twenty-First Century. Cambridge: Cambridge University Press, 2010 und meinen Kommentar dazu unter http://www.thomasschirrmacher.info/archives/1792]

Lindemann schreibt: „Mit ihrem Engagement für die Religionsfreiheit leistete die Allianz, deren angloamerikanischer Flügel sich nicht mit bloßer Toleranz zufriedengab, sondern das öffentliche Bekennen des Glaubens als ein Grundrecht ansah, auch der Durchsetzung der bürgerlichen Freiheiten in den betreffenden Ländern einen bemerkenswerten Dienst und trug zur Entstehung einer europäischen Zivilgesellschaft nicht unwesentlich bei. Allerdings kam es in diesem Bereich auch zu Konflikten mit der britischen Regierung, die im Blick auf Indien vorrangig an der Beherrschbarkeit des Landes interessiert war und im Falle des Osmanischen Staats insbesondere von globalstrategischen sowie von ökonomischen und Handelsinteressen geleitet war. Letztere begannen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts die britische Außenpolitik verstärkt zu beeinflussen. Zudem lässt sich auf der Regierungsseite eine deutliche Zurückhaltung gegenüber dem evangelikalen Missionsverständnis nachweisen. Das Gesamtengagement der Allianz erwies sich hingegen durch die Erweiterung seiner Bezugspunkte und -orte bis hin nach Russland und Japan als kongruent zur globalen Dauerpräsenz Großbritanniens. Im Unterschied zur britischen Außenpolitik mischte man sich jedoch immer wieder auch in europäische Religionskonflikte ein, während man mit Ausnahme der italienischen Einigung hinsichtlich politischer Spannungen wie den seit 1864 von Preußen geführten Kriegen analog zur Haltung der britischen Regierung Zurückhaltung übte oder sie gar wie im Falle des polnischen Aufstandes von 1863/64, der keineswegs frei von religiösen Komponenten war, ignorierte.“ (943).

 

2 Kommentare

  1. Danke für die Renzension! Das Buch selbst werde ich wohl aus Zeitgründen nicht schaffen.

Schreiben Sie einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert