Eine gekürzte Fassung dieser Meldung erschien als Leserbrief in idea Spektrum 14.2021 (S. 43) zur Meldung „Warum die Evangelikalen in einer Identitätskrise sind“ (Nr. 11, S. 8) und kann hier heruntergeladen werden. Im Folgenden wird die ungekürzte Fassung wiedergegeben.

Nachdem ich mich anhand des Originalartikels vergewissert habe, dass IDEA richtig berichtet hat, möchte ich auf die Ausführungen von Thomas Jeising reagieren, da er den Verrat am Evangelium im „innersten Kreis evangelikaler Leiter“ ausmacht. Dort findet Jeising Leute, die die 17 UN-Nachhaltigkeitsziele unterstützen, mit dem Vatikan und dem Ökumenischen Rat der Kirchen sprechen und als „politische Experten gegen Christenverfolgung“ gelten, was alles auf mich (und alles zusammengenommen vermutlich auf wenig andere Personen) zutrifft. Die Evangelikalen leben zu drei Vierteln im Globalen Süden, und mit deren Realität hat das, was Jeising beschreibt, nicht im Entferntesten zu tun. Hier wird mehr evangelisiert, denn je zuvor. Zudem wenden sich dort immer mehr traditionelle Kirchen, etwa Anglikaner und Lutheraner, evangelikalen Positionen zu und werden Mitglieder der nationalen Evangelischen Allianzen; oft bleiben sie gleichzeitig Mitglied im ÖRK. Sie sind es, die wollen, dass wir im engen Kontakt mit den anderen großen christlichen globalen Körperschaften stehen. Was hat das damit zu tun, ob uns das Evangelium wichtig ist? Werden wir durch unseren engen Kontakt mit humanistischen Weltverbänden zu Gottesleugnern?

Am meisten aber erschüttert mich, dass jemand, der sich für mich nicht erkennbar auf unpolitischem Wege gegen Christenverfolgung einsetzt, kritisiert, dass wir „politische“ Experten in dieser Frage sind, und behauptet, das wäre ein Beleg dafür, dass das Evangelium zur „Randnotiz“ wird. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Die Christenverfolgung nimmt zu, weil die Zahl der Christen in Ländern mit stark eingeschränkter Religionsfreiheit dank umfangreicher Evangelisation wächst. Wir sind es diesen Menschen schuldig, sie nicht nur Christen werden zu lassen, sondern sich dann auch für ihr politisches Schicksal einzusetzen. Im Übrigen ist der Weltweite Gebetstag für verfolgte Christen der Weltweiten Evangelischen Allianz (auch durchgeführt von der Deutschen, Schweizer und Österreichischen Allianz und unterstützt von IDEA) wahrscheinlich die größte Gebetsinitiative der Welt. Wir lassen uns also auch beim unpolitischen Einsatz gegen Christenverfolgung nicht lumpen. Schade, dass der Bibelbund, für den Thomas Jeising spricht, daran nicht teilnimmt, sondern ihn gewissermaßen aus dem sicheren Lehnstuhl heraus kritisiert. Mir als Bischof einer aus Konvertiten bestehenden anglikanischen Kirche den Vorwurf zu machen, Evangelisation und Theologie würden zur Randnotiz, ist schon fast komisch. Dass diese Kritik von einer Zeitschrift kommt, die ich früher selbst lange herausgegeben habe, schmerzt.

Die Evangelische Allianz entstand wesentlich aus der Antisklavereibewegung, in der der Name „Evangelicals“ erstmals benutzt wurde. Da soll gesellschaftliches Engagement ein Abfall von unserer DNA sein? 1846 war die Ev. Allianz der erste große religiöse Block, der völlige Religionsfreiheit für alle und damit auch das Ende der Staatskirchen forderte. Innerhalb zweier Jahrzehnte sorgte sie mit dafür, dass in Skandinavien die ersten Verfassungen und Staaten die Strafe für den Religionswechsel abschafften. Und da soll auch politischer Einsatz gegen Christenverfolgung etwas Neues sein, dass das Evangelium verrät? Der Einsatz für Mission kann nur biblisch sein, wenn er gleichzeitig jedem Zwang in Religionsfragen durch uns selbst ebenso wie durch den Staat absagt. Die Frommen haben dazu beigetragen, dass eines der folgenschwersten politischen Konzepte der Moderne durchgesetzt wurde, eben die Religionsfreiheit. Ich wünsche mir deswegen, dass die Evangelikalen ihren Einsatz hier nicht herunterfahren, sondern eher noch hochfahren.

Thomas Schirrmacher
Generalsekretär der Weltweiten Evangelischen Allianz

Anhang: Originalzitat aus Bibel und Gemeinde

„Ungeistlicher Umgang mit Anerkennung

Man könnte sich eigentlich über die Erfolgsgeschichte der Evangelikalen freuen, aber muss doch nüchtern einsehen, dass dadurch nicht das Evangelium in den Mittelpunkt öffentlicher Wahrnehmung gerückt wurde, sondern – wie das in der Welt normal ist – die Gruppe der Evangelikalen. Damit verbunden ist die Versuchung, die erreichte Stellung zu bewahren und Kompromisse mit den Maßstäben der anderen zu machen. Heute kämpfen Evangelikale mit der UNO für deren Milleniumsziele, sind Gesprächspartner im Vatikan und beim Weltkirchenrat und politische Experten in Sachen Christenverfolgung. Darüber ist vielen allerdings der Auftrag zur Verkündigung des Evangeliums von der Erlösung durch Jesus Christus von Mensch zu Mensch in den Hintergrund geraten. Oder der Auftrag wurde gleich so umgeformt, dass man die Gesellschaft ethisch-politisch im christlichen Sinne umgestalten bzw. transformieren will, weil das der Weg sei, dem Evangelium Einfluss zu verschaffen. Das lebendige Ringen um die Wahrheit des Evangeliums wurde oft hinter die Geschlossenheit der Bewegung zurückgestellt mit dem Argument, man müsse in der Öffentlichkeit doch zusammenstehen, damit so das Evangelium glaubwürdiger sei. Christen können vorübergehend die Anerkennung der Welt bekommen. Sie dürfen aber darauf nicht bauen oder die Freundschaft der Welt suchen, sonst geraten sie unweigerlich auf einen ungeistlichen Weg.“

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