Zur Geschichte der Verletzung und Verneinung der Religionsfreiheit der Juden
Im Folgenden geben wir ein Interview mit Erzbischof Prof. Dr. Thomas Schirrmacher anlässlich der Vorstellung des Jahrbuchs für Religionsfreiheit des Internationalen Instituts für Religionsfreiheit (IIRF) in Berlin wieder. Eine „Nicht-Interview-Version“ wurde am 9. Dezember 2025 als Gastbeitrag von Christian Daily International veröffentlicht.

Thomas Paul Schirrmacher an der „Schwarzen Wand“ der Gedenkstätte Auschwitz I in Polen am 18.3.2024 © IIRF/Schirrmacher
Interview mit Thomas Schirrmacher
Sie haben Ihren Beitrag zum Launch des Jahrbuchs 2025 mit „Antisemitismus – christlich, islamisch, säkular“ überschrieben, Was hat es mit diesem Dreiklang im Zusammenhang mit Religionsfreiheit auf sich?
Die einflussreichsten Religionen und Ideologen der Geschichte waren sich alle mehrheitlich im gegen das Volk Israel beziehungsweise der Juden gerichteten Anti-Judaismus, den ich aber im Folgenden mit dem üblich gewordenen Begriff „Antisemitismus“ bezeichne, einig, auch wenn sie recht unterschiedliche Formen davon hervorbrachten. Dazu gibt es keine Parallele in Geschichte und Gegenwart gegen ein anderes Volk oder eine andere Religion. Das hat dazu geführt, dass die Geschichte des Judentums seit Jahrhunderten und bis heute weltweit mit einer massiven Verletzung ihrer Religionsfreiheit einhergeht, wie bei kaum einer anderen Religionsgemeinschaft.
Die drei sind das Christentum, der Islam und die sich aus der christlichen Welt heraus entwickelnden säkularen oder atheistischen Weltanschauungen mit dem weiten Spektrum vom Sozialismus und Kommunismus auf der einen zum Faschismus und Nationalsozialismus auf der anderen Seite. Diese drei haben die Welt und Weltgeschichte mehr geprägt als alle anderen Bewegungen. Und alle drei haben weit verbreitete Formen des Antisemitismus hervorgebracht, die sich immer wieder neu vermischten.
Als sich etwa Adolf Hitler im Jahr 1941 mit dem Großmufti von Jerusalem, Mohammed Amin al-Husseini, traf, zeichnete sich die Vermischung christlicher, islamischer und säkular-rassistischer Verschwörungstheorien gegen die Juden ab. Selbst Hitler benutzte beispielsweise das Argument, dass die Juden „Christusmörder“ seien und „Hostienfrevel“ begingen, obwohl er dezidiert nicht an Jesus Christus im Sinne des christlichen Glaubensbekenntnisses glaubte.
Die christlichen, die islamischen und die säkular-rassistischen Formen des Antisemitismus vermengen sich seit einem Vierteljahrtausend zu immer neuen und radikaleren Kombinationen des Antisemitismus, die Entwicklung radikalisiert sich gegenwärtig noch seit dem 7.10.2023.
Kein anderes Volk der Geschichte, keine andere Religion der Geschichte wurde und wird je von einer solchen Bandbreite an Religionen und Weltanschauungen verunglimpft. Die Vereinten Nationen führen das jeden Tag vor Augen.
Wie meinen Sie das? Können sie das zur UN Gesagte etwas näher ausführen?
Die UN macht sich keine Sorgen wegen Nordkorea und schließt aus einer Verwerfung der Diktatur Nordkoreas nicht, dass alle Nordkoreaner vom Wesen her böse Menschen waren und sind. Im Falle der Juden und Israel scheint dagegen jedes Augenmaß verlorengegangen zu sein.
Seit dem 2. Weltkrieg sind rund 13 Millionen Menschen in bewaffneten Konflikten gestorben (ohne die Opfer der Folgen solcher Konflikte wie Hungersnöte), im israelisch-palästinensischen Konflikt etwa 200.000 und Gewalt ging dabei von beiden beziehungsweise mehreren Seiten aus. Trotzdem beziehen sich in den letzten zehn Jahren doppelt so viele Verurteilungen der UN auf Israel wie auf alle fast 200 anderen Staaten, wobei praktisch immer nur eine Seite verantwortlich gemacht wird.
Es gibt keine weltweiten Proteste und keine weitreichenden Erklärungen der UN zugunsten der 200 Millionen Dalits in Indien, die immer noch mit Füßen getreten werden, obwohl die Verfassung Indiens das seit 1947 verbietet. China wird nicht wegen der 1 Million Uiguren in Zwangslagern verurteilt. Russland wird nur schonend wegen seines Krieges gegen die Zivilbevölkerung der Ukraine verurteilt, wo die Menschen überwiegend derselben christlichen Konfession angehören. Aber die halbe Welt setzt sich täglich für die Palästinenser ein, die Frage ist nur, ob das wirklich geschieht, weil man ihr Wohlergehen meint, oder nur, weil man damit gegen Israel vorgehen kann. Eigentlich gibt es ja eine Art arabischen Rassismus gegen die Palästinenser, den man überall im Nahen und Mittleren Osten antreffen kann. Aber der Hass auf Israel ist um vieles größer, so dass alle arabischen Länder ständig Lippenbekenntnisse abgeben, während sie de facto kaum etwas für die Palästinenser tun. So haben jüngst alle arabischen Staaten zusammen mit anderen muslimischen Ländern alle Welt zu Sanktionen gegen Israel aufgerufen, sie selbst aber lassen ihre Geschäfte nahezu unverändert weiterlaufen.
Diese Kritik an der Besessenheit der UNO mit dem Thema Israel gilt übrigens unabhängig davon, wie man die Entscheidungen der UN oder ihrer Abteilungen und Organisationen im Einzelnen beurteilt und wie man zur Politik der seit 1948 37 gewählten Regierungen bzw. Kabinette Israels und ihrer unterschiedlichsten Politik steht. Man kann gegen die Politik Israels sein und trotzdem betonen, dass der Umgang der Vereinten Nationen mit Israel jedes Augenmaß verloren hat.
Wie erklären Sie diese Sonderstellung der Juden beziehungsweise Israels?
Trotz des Studiums einer ganzen Bibliothek zum Thema Antisemitismus kenne ich zwar viele Theorien, aber keine wirklich überzeugende Erklärung. Denn das Merkwürdige ist ja, dass der Antisemitismus auf allen Kontinenten sowohl dort blüht, wo es keine oder kaum Juden gibt, als auch dort, wo sie im gesellschaftlichen Leben deutlich wahrnehmbar sind. Und eine Erklärung des Antisemitismus in Christentum, Islam oder säkularen Weltanschauungen scheitert nicht nur daran, dass diese Bandbreite schon in sich sehr groß ist, sondern auch daran, dass der Antisemitismus schon lange vor dem Entstehen aller drei Religionen und Bewegungen existierte, und zwar auch schon so, dass keine andere Ethnie oder Religion ähnlich betroffen war.
Ich hatte einmal in Indonesien die Möglichkeit, die Auffassung der Präsidentschaftskandidaten zu erfragen. Sie waren sich nur in einer Sache einig: Das politische Problem, dass es für die Zukunft Indonesiens zu lösen gelte, sei der Staat Israel und die Palästinenserfrage. Ich war sprachlos, würde doch jedwede Lösung der Lage im Heiligen Land praktisch keinen Einfluss auf die Lage in Indonesien haben oder irgendeines der zentralen Probleme des Landes lösen.
Schon in der Antike liefern bedeutende Schriftsteller der Perser, Ägypter, Syrer, Griechen und Römer erschreckende Belege für eine einzigartige Ausgrenzung und Verleumdung von Juden. Die Juden wurden als besonders boshaft im Vergleich mit allen anderen Völkern der Welt dargestellt und als grundsätzliche „Feinde der Menschheit“ verunglimpft, die sich immer der staatlichen Autorität widersetzten. Man lese einmal, was der ägyptische Autor Manetho im 3. Jahrhundert v. Chr., der römische Autor Tacitus im Jahr 110 n. Chr. oder der christliche Kaiser Konstantin 325 n. Chr. den Juden Übles unterstellten. Das wurde von Kirchenvätern und dann ebenso im frühen Islam übernommen und weiter ausgebaut. Die absurden Vorwürfe wie Brunnenvergifter, Ritualmörder, Kinder Verspeisende oder vom Teufel Abstammende sind 2500 Jahre lang bis heute erhalten geblieben. Noch 1881 versuchte die Zeitschrift der Jesuiten in Rom nachzuweisen, dass der Ritualmord zentraler Bestandteil der jüdischen Religion sei, in der islamischen Welt ist die Überzeugung weiterhin weit verbreitet, obwohl es für keinen einzigen Fall einen historischen Beweis gibt.
Der römische Satiriker Juvenal (ca. 60 bis ca. 127 n. Chr.) riss viele hässliche Witze über Juden, unter anderem, dass sie zum Schweinegott beteten. – Kaum zu glauben, dass von dort die Linie zur mittelalterlichen „Judensau“ führt, die sich an vielen unserer schönsten Dome und Kirchen befand und zum Teil noch befindet. Martin Luthers Schrift von 1543 „Vom Schem Hamphoras“ ist seine wüsteste Schrift überhaupt und kaum zu ertragen und walzt mit der Wittenberger Judensau ein vorchristliches Stereotyp aus.
Mit Ihrer These von der Vermischung christlicher, islamischer und säkular-rassistischer Versionen des Antisemitismus greifen Sie natürlich auch in die deutsche Debatte ein, inwieweit der weit verbreitete Antisemitismus unter Muslimen in Deutschland eigentlich nicht islamisch ist, sondern ein europäischer Export in die islamische Welt.
Zunächst einmal: Antisemitismus ist immer zu verwerfen, ebenso wie Rassismus gegen Menschen dunklerer Hautfarbe oder die Sicht, dass alle Muslime Lügner sind. Ob ich den Antisemitismus mir selbst angeeignet habe oder ihn ererbt habe und wo wiederum meine Vorfahren ihn herhaben, ist dafür zunächst einmal unwichtig. Für den bei uns hier in Bonn auf offener Straße verprügelten jüdischen Gastprofessor ist es erst einmal irrelevant, wie die Vorfahren des Täters dachten. Bei solchen Übergriffen hat zudem jeder der Täter eine etwas andere persönliche und familiäre Geschichte seiner Motive.
Doch gehen wir einmal davon aus, dass ein Muslim in Deutschland Synagogen deswegen beschmiert, weil seine Großeltern antisemitisches Gedankengut aus Frankreich, England oder Deutschland übernahmen. Und? Was wird dadurch weniger verwerflich? Für Historiker mag das von Interesse sein, auch für die Frage der Erwachsenenbildung ist das wichtig, wenn man in der Deradikalisierung arbeiten will, aber an sich macht es den Antisemitismus nicht besser oder schlechter, ebenso wenig wie es für Deutsche eine Entlastung darstellt, dass bereits die Großeltern antisemitisch indoktriniert waren. Und wenn in Deutschland jede Woche schlimme antisemitische Predigten in konservativen Moscheen gehalten werden, kann man das nicht damit entschuldigen, dass Teile dieses Antisemitismus vor 100 oder 60 Jahren aus dem Westen in die arabische Welt gelangten.
Nun aber bitte zur Frage selbst! Ist der Antisemitismus aus dem Westen in die islamische Welt gelangt?
Diese These geht ursprünglich zurück auf Bernard Lewis in seinem Buch „Treibt sie ins Meer! Geschichte des Antisemitismus“ (deutsch 1989). Aber gerade Lewis belegte damals schon die enorm weite Verbreitung des Antisemitismus unter Muslimen weltweit.
Die Auffassung, dass der Antisemitismus der Araber ein westlicher Import sei, ist einerseits falsch, weil der Antisemitismus auf die Frühzeit des Islam zurückgeht, ebenso wie der christliche Antisemitismus auf die Frühzeit des Christentums zurückgeht. Die Auseinandersetzung zwischen Islam und Judentum reicht bis in die Lebenszeit Muhammads zurück. Zu denken ist hier vor allem an die gewaltsamen Auseinandersetzungen mit den jüdischen Stämmen von Medina und die pauschalen Diffamierungen der Juden als ungläubig, hochmütig, habgierig und intrigant. Quellenbände und Quellenstudien mit Texten aller Jahrhunderte belegen die jahrhundertelange Verachtung der Juden. Es hat schon im Mittelalter Pogrome gegen Juden in der islamischen Welt gegeben, auch wenn, wie in der christlichen Welt regional und zeitlich Phasen des Schutzes der Juden von Phasen der Verfolgung abgelöst wurden. Im Rahmen der Dekolonialisierung der islamischen Staaten im Nahen und Mittleren Osten wurden 850.000 Juden vertrieben, die meisten dieser Länder sind heute fast frei von Juden. Massaker an Juden 1790 im marokkanischen Tetuan, 1828 im irakischen Bagdad, 1834 im heute in Israel gelegenen Safed, 1929 in Hebron, 1934 im algerischen Constantine oder 1945 im lybischen Tripolis fanden vor der Gründung des Staates Israel statt.
Andererseits ist sie richtig, weil zu dem traditionellen Antisemitismus der islamischen Welt die aus dem Westen stammenden Verschwörungstheorien hinzutraten. Solange die Juden für schwach und Verlierer gehalten wurden, wurden sie zwar verachtet, nicht jedoch als Gefahr gesehen, weswegen es auch keine Verschwörungstheorien gab.
Erst mit der Einwanderung von Juden in Palästina und dem Erstarken des Zionismus wurden Juden zu Sündenböcken und dafür machte man Anleihen beim europäischen Antisemitismus. So wie der christliche Antisemitismus der Nährboden für den europäischen Antisemitismus war, war der islamische Antisemitismus der Nährboden für die Entwicklung der islamischen Welt im 20. Jahrhundert. Die Verachtung der Juden paarte sich mit europäischen rassistischen Verschwörungstheorien. Die Nazis setzen ab 1937 gezielt Propaganda ein, um den Judenhass in der arabischen Welt zu schüren. Nur hätte das keinen Erfolg gehabt, wenn der Antisemitismus der arabischen Welt bis dahin fremd gewesen wäre.
Wieso konnten sich die Verschwörungstheorien in der islamischen Welt so verbreiten?
Die Verschwörungstheorien werden zur Erklärung für das Unerklärliche herangezogen: Wie konnte es nur sein, dass die arabischen Staaten mit Unterstützung fast der gesamten islamischen Welt mehrere Kriege gegen Israel verloren, die sie alle in dem Gefühl begannen, Israel mal eben schnell von der Landkarte beseitigen zu können. Hier war die Erklärung verlockend, dass hinter Israel in Wirklichkeit eine globale jüdische Verschwörung des Großkapitals stehe, die die USA fest in ihrer Hand habe.
Israel und seine vor allem militärischen Siege sind der Hauptgrund, warum Weltverschwörungstheorien in der islamischen Welt gewissermaßen nötig und hoffähig wurden, die Juden als Verlierer zogen in früheren Jahrhunderten nicht so den Hass auf sich wie die Juden als „Sieger“ – vor allem seit 1948. Das baute natürlich auf der demütigenden und bis heute oft ungelöste Konfrontation der islamischen Welt mit der westlichen Moderne im 19. und 20. Jh. auf, der Jude taugte als Sündenbock für das Versagen islamischer Regime.
Allerdings muss ich hier eine Einschränkung vornehmen, die meine These von der Vermischung nur weiter unterstreicht: Der westliche Antisemitismus kam in die islamische Welt erstmals durch arabische Christengemeinden im 19. Jahrhundert. In der Damaskus-Affäre 1840 wurde etwa der Ritualmordvorwurf von Christen eingeführt, er ist bis heute im Nahen Osten prominent geblieben. Der heutige Hass vieler arabischer Kirchen und Christen auf die Juden ist viel älter als die Gründung des Staates Israel und arabische Christen haben sich fast zwei Jahrhunderte lang an der Verfolgung von Juden in arabischen Ländern beteiligt.
Können wir neben Christentum und Islam noch auf die dritte prägende Weltanschauungsmacht zu sprechen kommen?
Die säkulare, eher rassistische Variante des Antisemitismus in Europa hatte einen langen Anlaufweg, bevor sie vor allem im 19. Jahrhundert in Frankreich, England und Deutschland Boden gewann und dann im 20. Jahrhundert von Russland aus mit den „Protokollen der Weisen von Zion“ und schließlich durch den Nationalsozialismus einen verheerenden Siegeszug antrat.
In Spanien setzte sich Ende des 15. Jahrhunderts, Anfang des 16. Jahrhunderts als Folge der ‚Reconquista‘, der christlichen Rückeroberung ganz Spaniens, eine neue Sicht durch. Zwar hatte man die meisten Juden und verbliebenen muslimische Mauren ab 1492 gezwungen, sich taufen zu lassen (oder das Land zu verlassen), aber jetzt wurde aus der gängigen religiösen Intoleranz eine rassistische. Juden und Mauren blieben aufgrund ihrer Abstammung in den Augen der Kirche häufig auch nach der Taufe Feinde und wurde nicht wirklich als Gläubige angesehen. Der Antisemitismus gewann also mit der spanischen Politik der ‚Blutreinheit‘ (limpieza de sangre) eine neue Form, in der das Praktizieren der jüdischen Religion für das Judesein keine konstitutive Rolle mehr spielte.
Mit einem Zeitsprung landen wir im 19. Jahrhundert, wo im Gefolge der darwinischen Evolutionslehre allerlei rassistische Varianten des Antisemitismus entstanden, bei denen das Übel nicht mehr in der jüdischen Religion, sondern im Wesen der Juden lag, die im Vergleich zu allen anderen Völkern bösartig und verschlagen seien. Mit den „Protokollen der Weisen von Zion“ erhielt die nichtreligiöse Variante des Antisemitismus das heute vorherrschende Element, dass die rassisch definierten Juden eine gefährliche Weltverschwörung gegen die Menschheit umsetzen würden. Diese Weltverschwörungsideologie hat den christlichen Antisemitismus weltweit nur teilweise erfasst und verschärft, den islamischen Antisemitismus aber fast vollständig erfasst, erweitert und verschärft.
Zusammenfassend kann man sagen: Beide religiösen Formen des Antisemitismus waren ursprünglich vor allem gegen das Judentum als andere Religion gerichtet. Traten die Juden zum Christentum oder zum Islam über, war alles in Ordnung. Erst später wurde der Antisemitismus in Teilen rassistisch gewendet und Juden blieben selbst dann suspekt, wenn sie konvertierten. Im Christentum setzte die Entwicklung seit der Reconquista in Spanien ein.
Die Gegenläufigkeit zeigte sich noch im Dritten Reich, als selbst solche Kirchenführer, die überhaupt etwas sagten (meist Vertreter der Bekennenden Kirche), zwar für getaufte Juden eintraten und diese nicht mehr als Juden, sondern als Christen ansahen, nicht aber für ungetaufte Juden. Für den Nationalsozialismus dagegen – und leider auch für viele Vertreter der Deutschen Christen – spielte es keinerlei Rolle, ob Juden ihre Religion praktizierten, areligiös waren oder vor Generationen zum Christentum übergetreten waren.
Die säkularen Verschwörungstheorien verquickten sich in Europa und den USA Ende des 19. Jahrhunderts und im 20. Jahrhundert mit dem christlichen Antisemitismus, in der islamischen, besonders der arabischen Welt seit der Einwanderung von Juden nach Palästina und spätestens seit dem Krieg von 1948 mit dem Islam.
Diese Verquickung ist auch der Grund, warum der Antisemitismus als Hass auf Juden an sich und der Antisemitismus als Hass auf den Staat Israel immer mehr verschmelzen und bei den gegenwärtigen Anti-Israel-Protesten weltweit kaum noch auseinanderzuhalten sind. Wenn etwa ein Deutscher jüdischen Glaubens angespuckt wird, um gegen die Politik Israels zu protestieren, oder behauptet wird, dass „die Juden“ in Gaza einen Genozid verübten, wird deutlich, dass die meisten Antisemiten gar keinen Unterschied zwischen Juden und Israel machen. In der Princeton University habe ich jüdische Studenten interviewt, die angegriffen wurden, obwohl sie gerade gegen die Politik Israels protestierten. Dass sie sich gegen Netanjahu aussprachen, änderte für die Täter nichts daran, dass sie als Juden so oder so die Bösen sind, die Bestrafung verdienen.
Noch ein Nachsatz: Nach 1949 bis etwa 1967 waren alle linken Parteien und Gruppen in Deutschland pro Israel eingestellt, das sogar als sozialistisches Projekt angesehen wurde. Dies geschah parallel zur Förderung der Kriegsverbrecherprozesse und der Forderung nach Entnazifizierung. Noch Rudi Dutschke war pro Israel. Erst nach dem Sechstagekrieg begann zügig die zunehmende Solidarisierung mit den palästinensischen Terroristen. Antisemitismus wurde zum Standard im linken politischen Spektrum. Natürlich müsste man jetzt genau ausführen, was mit dem „linken“ Spektrum gemeint und wie jede einzelne Partei und Organisation aufgestellt war, hier möchte ich nur generell auf diesen Seitenwechsel nach 1967 hinweisen, der schließlich dazu geführt hat, dass wir heute insbesondere in Medien und Kunst sowie bei den Demonstrationen zugunsten der Hamas eine merkwürdige Phalanx von linken Organisationen und Personen mit extremistischen muslimnischen Organisationen vorfinden.
Wenden wir uns nun unserer eigenen Religion zu. Sie behaupten auch, dass der Antisemitismus in der Breite des Christentums und insbesondere der Theologie viel weiter verwurzelt ist, als der Umstand, dass ihn heute fast alle Kirchen verurteilen, vermuten lässt.
Ja, davon bin ich überzeugt. Dazu müsste man aber etwas weiter ausholen. Darf ich schlaglichtartig die Frühe Kirche, die Reformationszeit und das 19. Jahrhundert wählen?
Ja, bitte!
Mit „Adversus Judaeos“-Literatur bezeichnet man bekanntlich eine spezielle Gattung frühchristlicher Schriften, die sich gegen das Judentum wenden. Diese Texte entstanden ab etwa 175 n. Chr. und wurden von christlichen Autoren verfasst, um die Abgrenzung des Christentums vom Judentum zu stärken und die jüdische Religion zu kritisieren. Inhaltlich enthalten diese Schriften oft theologische Argumente, die behaupten, dass Gott das jüdische Volk verworfen habe und der Bund mit Israel nun auf die Christen übergegangen sei. Sie kritisieren die jüdische Tora, lehnen jüdische Begriffe und Bräuche ab und stellen die Juden häufig als ungehorsam gegenüber Gott und als Feinde der Christen dar. Bekannte Vertreter dieser Literatur sind Tertullian, Hippolyt von Rom und Cyprian, deren Werke polemisch gegen das Judentum argumentieren. Augustinus von Hippo verfasste ebenfalls einen berühmten Traktat „Tractatus adversus Judaeos“, der diese Haltung weiterprägte. Mit den Genannten, dem Barnabasbrief, Justin dem Märtyrer, Chrysostomus und Ambrosius ist hier die Elite der Kirchenväter vertreten.
Symptomatisch ist die verheerende Begründung, die das Konzil von Nizäa gab, warum Ostern nicht mehr auf den Termin des jüdischen Passafestes fallen solle, sondern unabhängig von jüdischen Riten gefeiert werden müsse. Anschließend schrieb Kaiser Konstantin einen noch viel übleren Brief an alle Bischöfe, dass die Kirche nichts mit irgendwelchen jüdischen Riten zu tun haben solle, da die Juden Christus gekreuzigt hätten und ihre Riten abergläubisch und verabscheuungswürdig seien. Vier Jahre vor dem Konzil hatte deswegen der Kaiser per Reichsgesetz den Sonntag als wöchentlichen Feiertag verfügt. Seitdem müssen die Juden weltweit dafür kämpfen, dass sie am Samstag, ihrem Sabbat, die Arbeit niederlegen dürfen.
Der Antisemitismus hätte dann eigentlich mit der Reformation ein Ende haben sollen und können, da man sich sowieso von vielen üblen Entwicklungen der Kirchengeschichte distanzierte und man dem Alten Testament als Gottes Wort einen hohen Stellenwert einräumte. Die Wiederbelebung der hebräischen Studien des Alten Testaments sowie weite Teile der reformierten Theologie leisteten positive Beiträge zum Ernstnehmen der jüdischen Religion. Der lutherische Flügel der Reformation trug jedoch nicht selten zur antisemitischen Theologie bei, indem er argumentierte, dass das Alte Testament „jüdisch“ und legalistisch sei, während er gleichzeitig zu beweisen versuchte, dass die Katholiken wie die Juden seien und daher falsch lägen. Sicher müsste man zu 500 Jahren protestantischer Geschichte mehr sagen, aber es geht hier ja nur um Beispiele, wie grundsätzlich der Antisemitismus verankert war.
Gehen wir ins 19. Jahrhundert. Dieser Antisemitismus in der Theologie fand seinen liberalen Ausdruck in der Auffassung der historisch-kritischen Theologien, dass das Alte Testament von jüdischen Priestern erfunden worden sei, die zu ihrem eigenen Vorteil den Eindruck erweckten, dass es sich um alte Texte handelte. Das Alte Testament wurde dabei nicht zufällig viel früher und viel heftiger in Frage gestellt als das Neue Testament, obwohl Archäologen und Historiker oft zu viel positiveren Gesamturteilen kamen, was später zu Büchern wie „Und die Bibel hat doch Recht“ führte. Auch hier müsste man natürlich ins Detail gehen.
Der protestantische Antisemitismus fand auch mehrere evangelikale Ausdrucksformen, obwohl die Evangelikalen grundsätzlich eine andere Sicht hatten, vor allem weil für sie das Alte Testament gleichermaßen Gottes unfehlbares Wort ist wie das Neue Testament. Trotzdem sehen etwa einige Formen des im 19. Jahrhundert entstandenen Dispensationalismus trotz aller Unterstützung des 1948 gegründeten Staates Israel die Juden in der Zukunft als Verbündete des Antichristen (zumindest vor ihrer zukünftigen Bekehrung). Auch hier müsste man natürlich ins Detail gehen und ausdifferenzieren und ich will damit natürlich auch keine Standortbestimmung geben, welche eschatologische Sicht der Zukunft der Heiligen Schrift am stärksten entspricht.
Wenden wir uns zuletzt der aktuellen Situation zu. Wo liegt für Sie heute bezüglich des neuen, wachsenden Antisemitismus die größte Herausforderung in Europa?
Die Freiheit der Religion und Weltanschauung ist ein Menschenrecht. Menschenrechte gehen nicht nur dem Staat voraus und werden nicht nur zu Recht gefordert, gleich ob sie in den tatsächlichen Gesetzen eines Staates verankert sind, sie sind zugleich eine Aufgabe für den Staat, der die Menschenrechte schützen muss, auch indem er ihre Verletzung ahndet und aktiv, gegebenenfalls auch mit Einsatz staatlicher Gewalt, schützt. Folter ist ja nicht nur einfach falsch und verboten, sie ist nicht nur dem Staat verboten, sondern der Staat hat auch mit den Strafverfolgungsbehörden einzugreifen, wenn Menschen andere Menschen foltern und solches Foltern so weit wie nur irgend möglich zu verhindern.
Der Schutz jüdischer Mitbürger geschieht natürlich nicht nur auf der Grundlage der Religionsfreiheit, denn für sie greift ja jeder Schutz, der auch jedem Bürger anderen Bürger zusteht, aber es geht eben auch um den Schutz der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit der Juden, ebenso wie um den Schutz ihrer Versammlungsfreiheit, Meinungsfreiheit usw. Hier liegt die Herausforderung: Je stärker der Antisemitismus mit Aufrufen zur Gewalt oder mit der direkten Ausübung von Gewalt verbunden ist und je größer die Zahl der daran Beteiligten ist, desto mehr kann nur noch der Staat diesen Antisemitismus eindämmen.
Als Bürger oder auch als Kirche kann man sicher Zivilcourage zeigen, aber man kann keine hoheitlichen Aufgaben anstelle des Staates ausüben. Wenn Politiker also erfreulicherweise zu Recht öffentlich und massiv dafür eintreten, dass Juden in unserem Land sicher und frei leben können müssen, müssen sie sich darüber im Klaren sein, dass der derzeitige Antisemitismus auf der Straße nicht mit Lippenbekenntnissen bekämpft werden kann, sondern eine Herausforderung der staatlichen Gewalt in jeder Form darstellt, leider auch, weil oft die Sicherheitskräfte in unserem Land zahlenmäßig gar nicht ausreichen. Zugleich ist deswegen jedem staatlichen Hoheitsträger, der sich hier engagiert, zu danken.
Ich danke für das Gespräch!