Eine kürzere Fassung dieser Rezension wird in „Evangelikale Missiologie“ 27 (2011), Heft 2 erscheinen.

Klaus Koschorke, Falling walls – the year 1989/90 as a turning point in the history of world Christianity / Einstürzende Mauern – das Jahr 1989/90 als Epochenjahr in der Geschichte des Weltchristentums, Studien zur außereuropäischen Christentumsgeschiuchte 15. Wiesbaden: Harrassowitz Verlag, 2009, 451 S., 54,00 €.

Dass „die Wende“ 1989/90, also der Fall der Berliner Mauer, die Auflösung des Sowjetimperiums, das Ende der bipolaren Weltordnung und das Ende der Apartheid in Südafrika auf allen Kontinenten tiefgreifende politische oder wirtschaftliche Folgen hatte, ist unbestritten. Doch wie sah die Rolle der Christenheit dabei aus und welche Folgen hatte sie für die Weltchristenheit?

Dass Christen und Kirchen in der Vorbereitung der Wende in Deutschland involviert waren, ist gründlich untersucht. Bei der Welle der Demokratisierungen 1989–1993 spielten Kirchen eine führende Rolle (in Rumänien etwa begann die Revolution mit dem Widrestand gegen die politisch motivierten Zwangsversetzung des reformierten Pfarrers Lászlo Tökes in Timisoara, wo ich unterrichte, s. S. 64), die Zahl der führenden christlichen Persönlichkeiten in der Politik nahm stark zu, wenn auch nicht immer ganz so offensichtlich wie in Sambia, wo 1991 eine Diktatur durch einen in freier Wahl gewählten Präsident abgelöst wurde, der Sambia zu seiner „christlichen Nation“ erklärte. 1996 folgte eine ähnliche Revolution in Benin mit Hilfe der katholischen Kirche, aber als Ergebnis wurde dann Voodoo der neue nationale Identitätsstifter.

Zur Frage nach der Weltchristenheit gehört in diesem Zusammenhang aber auch die Darstellung der neuen Religionsfreiheit in vielen Ländern, aber auch die Ablösung des Kommunismus als Hauptbeschränker der Religionsfreiheit und durch den Islam, wobei es in islamischen ebenso wie in anderen Ländern häufig zu einer neuen gefährlichen Allianz von Religion und Nationalismus kam.

Die 4. Internationale München-Freising-Konferenz führte dazu 2008 Forscher aus 4 Kontinenten, zahlreicher Fachrichtungen und der großen Konfessionen zusammen. Die 23 deutschen oder englischen Forschungsbeiträge (plus Einführung durch den Herausgeber und Zusammenfassung durch einen Konferenzbeobachter), die fast ausnahmslos regionale, nationale und dabei oft konfessionelle Schwerpunkte setzen, stellen derzeit die umfassendste Darstellung zum Thema dar. Ihr Niveau ist überwiegend sehr hoch, meist mit einer Fülle in deutschen Bibliotheken schwer zugänglicher Quellen belegt. Es gibt Ausnahmen, so ist ausgerechnet der Beitrag zu Südafrika nur eine 4seitige Zusammenfassung (S. 89 ff.) und etliche Beiträge leiden in ihrer Wissenschaftlichkeit unter der konfessionellen Einseitigkeit der Autoren. Dennoch habe ich die 450 Seiten komplett mit großem Gewinn gelesen, was mir bei der Flut von Sammelbänden heutzutage längst nicht immer so ergeht.

Es ist natürlich unmöglich, hier zu jedem der Beiträge einige Sätze zu schreiben. Für den Leser, der wissen will, ob „seine“ Region oder Thematik behandelt wird, seien grob die Themen aufgelistet: DDR, Polen, Rumänien, Osteuropa, 2 x Südafrika, Äthiopien, 3 x Afrika, Südkorea, China, Vietnam, Kuba, Zentralamerika, Argentinien/Ururuguay/Chile, Brasilien, Lateinamerika, USA; allgemein: Fundamentalismus, Befreiungstheologie, Pfingstbewegung, Lutherische Kirchen.

Bedauerlich ist, dass nicht alle Autoren angehalten wurden, das gesamte konfessionelle Spektrum abzudecken. So mag man ja noch verstehen, dass zu Polen der Protestantismus nicht dargestellt wird, dass er zu China fehlt, ist unverständlich, so gut und wie immer lesenwert der Beitrag von Roman Malek ist. Überhaupt lassen die meisten katholischen Autoren andere Konfessionen überwiegend links liegen, während die protestantischen Autoren die nichtprotestantischen Kirchen wenigstens mit darstellen, wenn auch selten angemessen. Angesichts der Gesamtthematik des Buches ist die konfessionelle und theologische Einseitigkeit etlicher Einzelbeiträge erstaunlich. Dies betrifft auch die Evangelikalen und Pfingstler, immerhin ein Drittel der Weltchristenheit, die überwiegend als negative Klischees erscheinen, auch wenn die Spannbreite der Autoren von billiger Polemik hin zu gut belegten Fehlentwicklungen reichen. Manche Kritik ist berechtigt – wenn auch in dem Buch weniger Ergebnis belegter Forschung als einfach die Meinung des jeweiligen Autors – etwa dass in den charismatischen Bewegungen „Christianity as a Shopping Mall“ etabliert wurde (James R. Cochrane S. 109–110) oder pfingstliche Politiker in Brasilien sich „nicht als kompetenter oder ethisch verlässlicher erwiesen als andere“ (Rudolf von Sinner, S. 330). Doch so sehr auch nichtamerikanische Evangelikale vieles kritisch sehen, was im evangelikalen Bereich in den USA geschieht, Sammeltöpfe „der Rechtsevangelikalen, Neofundamentalisten und Pfingssekten“ (S. 21) helfen bei der Aufarbeitung sicher nicht.

Manchmal schlägt eine westliche, theologisch liberale Sichtweise verzerrend durch, etwa wenn es heißt, dass konservative anglikanische Angklikaner versuchen die afrikanischen Kirchen für ihre Zwecke einzuspannen (S. 17). Den Neuaufbrauch großer anglikanischer Kirchen in Afrika aus Amerika heraus zu erklären ist schlicht falsch, offenbart aber auch einen Patriarchalismus, der die Realität nicht gerecht wird. Es sind umgekehrt stark wachsende afrikanische anglikanische Nationalkirchen wie in Uganda, die den kleinen konservativen Flügel der Anglikaner in den USA zum Widerstand anstiften.

Anselm K. Min (S. 195–214) schreibt den koreanischen Kirchen aller Konfessionen zwar berechtigte und gewichtige Anfragen ins Stammbuch – wenn auch aus den USA, seine Leistung als Historiker ist aber schwach, seine Kritik an allem, was rechts von ihm steht, ist heftig, aber nicht belegt. Er wird der Diversität des konservativen Protestantismus und der evangelikalen Bewegung nicht gerecht und spiegelt eher seine eigene theologische Position wieder, als eine wissenschaftliche Erforschung der Kirchengeschichte. Die stabilisierende Rolle nicht aller, aber vieler evangelikaler Gruppen für die koreanische Demokratie und die vergleichsweise positive Rolle eines evangelikalen Präsidenten wird gar nicht erwähnt. Typisch klischeehaft wird der Fundamentalismus mit Anti-Intellektualismus und dogmatischer Intoleranz gleichgesetzt (S. 210) – das haben die großen reformierten Hochschulen Koreas sicher nicht alle verdient. Und wer im wissenschaftlichen Kontext von „Fundamentalismus“ spricht, möge bitte angesichts der ungezählten Definitionen und dem meist emotionalen oder gar vernichtenden Bedeutungen erst einmal sagen, was er eigentlich darunter versteht, sonst verbreitet er nur emotionale Wertungen. Das überschwengliche Lob des koreanischen Katholizismus im Gegensatz zum Protestantismus, der korrupt, materialistisch, individualistisch und der koreanischen Kultur nicht angepasst sei (S. 212), wirkt in seiner schwarz-weißen Pauschalisierung trotz des gewissen Wahrheitskerns fast schon komisch.

Die große Ausnahme ist hier – wie nicht anders aufgrund seiner Bücher zu erwarten – der unbedingt lesenswerte Beitrag von Michael Hochgeschwender zu den USA (S. 351–371), eigentlich für das Thema „Evangelikale“ ja das schwierigste Land. Doch Hochgeschwender schreibt informiert, belegt, differenziert, bei allen Vor- und Nachteile sehend, über alle Konfessionen und Richtungen gleichermaßen fair. Da ist man doch wohl bei einem Historiker wieder einmal in besseren Händen als bei Theologen – wie überhaupt die Beiträge der Historiker in dem Band besser sind, wir Theologen müssen eben immer predigen, auch wenn wir nur die Vergangenheit beschreiben sollen. Hochgeschwender sieht generell den Schwerpunkt der enormen Religiosität und Spiritualität in den USA, dass sie „mit einer radikalen Konseqenz, die weltweit ihresgleichen sucht, zur Ware umfunktioniert“ (S. 368) wurde und wird.

Am anderen Ende des Spektrums zu Hochgeschwender steht der britische Theologe Kevin Ward, der eigentlich „Pluralism and fundamentalism as challenges for the African Churches“ (S. 157–176), aber überwiegend nur die Spaltung der anglikansichen Weltgemeinschaft darstellt, das Thema seiner Überschrift also verfehlt hat, nicht nur weil er nirgends definiert, was die beiden Begriffe seines Themas eigentlich bedeuten, sondern eigentlich immer nur zwei Lager beschreibt, die man dann wohl den beiden Themen zuordnen soll, was der enormen Vielfalt der afrikanischen Christenheit kaum gerecht wird. Auf welcher Seite Ward selbst steht, zeigt seine Verteidigung der Forderung von Erzbischof Williams, die Scharia in Teilen in Großbritannien zuzulassen. Kommt die Kritik daran wirklich nur von Konservativen, die sich nicht mit der Realität der multikulturellen Gesellschaft abfinden wollen (S. 173)? Wards Kritik an der Kritik der nigerianischen Bischöfe an Williams geht völlig daran vorbei, dass die Frage der Gültigkeit der Scharia für die anglikanische Kirche in Nigeria keine akademische, sondern eine existentielle Frage ist, kein Strömungen der Theologie rechts und links zuzuordnendes Thema.

Sehr interessant sind die Beiträge, die sich die Folgen der „Wende“ für die Befreiungstheologie und den Weltkirchenrat diskutieren. Sergo Silva (S. 335–350) ist vehement der Meinung, die These, die Befreiungstheologie habe ohne real existierende sozialistische Länder stark an Bedeutung verloren, sei grundfalsch. Seine Argumente sind aber fast ausschließlich theologisch (sie ist weiter berechtigt und nötig) nicht historisch oder soziologisch. (Auch hier ist übrigens bedauerlich, dass Evangelikale wie Rene Padilla oder Samuel Escobar und ihre jüngeren Nachfolger überhaupt nicht in den Blick kommen.) Die Baseler Missionswissenschaftlerin Christine Lienemann-Perrin (S. 373–392) vertritt die entgegegengesetzte These – und dies gut belegt vor allem am Beispiel Koreas, Südafrikas und Lateinamerikas. Sie geht davon aus, dass die großen befreiungstheologischen Entwürfe durch kontextuelle, lokale Entwürfe abgelöst wurden.

Virgo Mortensen (429–441) beschreibt ausgehend von den lutherischen Kirchen die tiefgreifende Veränderung innerhalb der ökumenischen Bewegung nach 1989. Denn „innerhalb der ökumenischen Bewegung hingen viele am sozialistischen Traum“ (S. 440). Dieser sei längst ausgeträumt (ähnlich Hartmut Lehmann S. 446). Die Entwicklung ginge von der Betonung der sichtbaren Einheit hin zur versöhnten Vielfalt, vom Konsens (fastt um jeden Preis) hin zum sichtbaren Profil und Bekenntnis. Das die Veränderungen auch den Dauerstreit zwischen Evangelikalen und Weltkirchenrat beendet hat und es heute eine gute Zusammenarbeit mit der weltweiten Evangelischen Allianz in vielen Fragen gibt, wird in dem guten artikel nicht erwähnt, auch wenn dies genau die These des Autors unterstreicht.

Da mein eigenes Forschungsgebiet die Religionsfreiheit ist, sei noch kritisch bemerkt, dass das in der Einführung gut angesprochene Thema, dass durch die „Wende“ Religionsfreiheit ein ganz neues Thema wurde, sich aber international auch ganz anders ohne den kommunistischen Block darstellt, etwa durch die zunehmende Verquickung von Religion und Nationalismus (darunter auch Beispiele eines christlichen Nationalismus!), im Buch fast völlig fehlt. Dabei hätte das Thema mindestens einen eigenen Beitrag verdient gehabt und hätte alle anderen Beiträge durchziehen müssen. Denn die praktische Lage der Religionsfreiheit weltweit als auch der internationale theoretische Diskusrs zum Thema hat sich in den letzten drei Jahrzehnten von der „Wende“ ausgehen grundlegend gewandelt und christliche Kirchen sind unmittelbar von beidem überall betroffen.

 

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