Im letzten Blog haben wir gesehen, dass die Aussage ‚Alle Menschen sind Sünder‘ eine eminent gesellschaftspolitische und politische Bedeutung hat. Die Aussage, dass alle Menschen Sünder sind, bildet auch eine wichtige Grundlage der Demokratie und ist mit einer der Gründe, warum fast alle ehemals christlichen Länder heute Demokratien sind [siehe meinen Aufsatz „Demokratie und christliche Ethik“. Aus Politik und Zeitgeschichte (Beilage zu Das Parlament) 14/2009 (30.3.2009): 21-26].
Das Christentum ist sehr selbstkritisch angelegt (ob es das in der Realität immer war oder ist, steht auf einem anderen Blatt) und ist sehr misstrauisch, da es davon ausgeht, dass jeder – beginnend bei sich selbst – sich nicht nur gelegentlich den einen oder anderen Schnitzer erlaubt, sondern im ganz normalen Alltag davon geprägt ist, als Egoist sich selbst und anderen zu schaden. Das färbt auch auf das Verständnis der Politik und ihrer Gefahren ab.
1532 schrieb Niccolò Machiavelli mit ‚Der Fürst‘ eine Bedienungsanleitung für machthungrige Herrscher. Entscheidend sei immer der Enderfolg, der Pöbel unterstütze immer den Sieger und ehre im Nachhinein alle Mittel, die ihn dazu geführt hätten.
So richtig es ist, dass der Sieger immer die Geschichte schreibt, so moralisch verwerflich bleibt es, wenn Mächtige nur herrschen, um Macht zu haben und ihrem eigenen Vorteil zu dienen. Der deutsche Amtseid für die Bundesregierung lautet dagegen im Grundgesetz Artikel 56 & 64): „Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden … und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe.“
Um Machtmissbrauch zu verhindern, wurde 1787 die Gewaltenteilung in der Verfassung der USA, als „checks and balances“ bekannt, verankert, ebenso wie andere Mechanismen, etwa die Beschränkung der Amtszeit des Präsidenten auf höchstens zweimal 4 Jahre. ‚Checks and Balances‘ bezeichnet die gegenseitige Kontrolle (checks) von Verfassungsorganen eines Staates zur Herstellung eines dem Erfolg des Ganzen förderlichen Systems partiellen Gleichgewichtes an Macht (balances), vor allem, um einer Diktatur vorzubeugen. Es geht dabei weniger um eine strikte Trennung der Gewalten, sondern gerade um eine gegenseitige Eingriffsmöglichkeit und Kontrolle, weswegen die Gewaltenverschränkung wesentlich zur Gewaltenteilung gehört.
Die Demokratie hat sehr viel mit der Frage zu tun, wie man potenzielle Diktatoren aus dem Verkehr ziehen kann und wie man schlechte und ihre Macht missbrauchende Politiker und Politikerinnen wieder los werden kann.
Sir Karl Popper hat das 1960 treffend so formuliert:
„Wer soll herrschen? Diese Frage verlangt nach einer autoritären Antwort: etwa ‚die Besten‘ oder ‚die Weisesten‘ oder ‚das Volk‘ oder ‚die Mehrheit‘. … Man sollte eine ganz andere Fragestellung an ihre Stelle setzen, etwa: Was können wir tun, um unsere politischen Institutionen so zu gestalten, daß schlechte oder untüchtige Herrscher (die wir natürlich zu vermeiden suchen, aber trotzdem nur allzu leicht bekommen können) möglichst geringen Schaden anrichten? …“ („Erkenntnis ohne Autorität”. S. 26-39 in: Karl Popper. Lesebuch. Tübingen: Mohr, 2000. S. 32)
In „Freiheit und intellektuelle Verantwortung“ hat Popper das 1989 näher ausgeführt (Karl P. Popper. Alles leben ist Problemlösen. S. 239-254, weitere Beiträge zur Demokratie S. 207-238; guter Auszug „Wer soll herrschen“ unter www.gewaltenteilung.de/popper.htm, eigentlich aus Karl P. Popper. Alle Menschen sind Philosophen. München: Piper, 2002. S. 211-218, siehe auch „Worauf es in der Demokratie ankommt“. S. 219-227). Popper versteht Demokratie dort weniger als ‚Volksherrschaft‘, denn als „Volksgericht“. Demokratie ist kein Weg, die besten Herrscher zu finden und auch keine Garantie für gute Entscheidungen („Eine Mehrheitsdiktatur kann für die Minderheit fürchterlich sein“), sondern die beste Antwort auf die Frage „Wie können wir die Konstitution des Staates so gestalten, daß wir die Regierung ohne Blutvergießen loswerden können?“.
Erstmals, wenn auch nicht ganz so deutlich, hat Popper diese Gedanken 1944 in seiner Kritik an Plato im Abschnitt „Das Prinzip des Führertums“ vorgetragen (Karl R. Popper. Der Zauber Platons. Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Band 1. Bern: Francke, 1957. S. 169-174; erste englische Ausgabe 1944; verfasst 1938-1943). Nicht wer soll herrschen, ist nach Popper die Frage, sondern wie man schlechte Herrscher wieder und friedlich los wird, ist neben der Beschränkung der Macht die Frage, die zur Demokratie führt (ebd. S. 170-173).
„… so erhebt sich die Frage, ob sich das politische Denken nicht von Anfang an mit der Möglichkeit schlechter Regierungen vertraut machen sollte … es zwingt uns die Frage: Wer soll regieren? durch eine neue Frage zu ersetzen: Wie können wir politische Institutionen so organisieren, daß es schlechten und inkompetenten Herrschern unmöglich ist, allzugroßen Schaden anzurichten?“ (S. 170). „Ich neige zu der Ansicht, daß Herrscher sich moralisch oder intellektuell selten über und oft unter dem Durchschnitt befinden. Und ich halte es für ein kluges Prinzip, wenn wir uns, so gut wir es können, auf das Ärgste vorbereiten, obschon wir natürlich zur gleichen Zeit versuchen sollten, das Beste zu erreichen.“ (S. 172)
So wird zum Paradoxon der Demokratie die Frage, was man tun soll, wenn das Volk einen Tyrannen wählen will (S. 173).
Der Gedanke der Demokratie ist also untrennbar mit dem Gedanken verbunden, dass es schlechte Herrschende geben kann, die Böses planen und tun. Historische Erfahrung lehrt, dass Demokratie besser als jede andere Staatsform Tyrannei, Menschenrechtsverletzungen und einen zu großen Machtmissbrauch verhindern kann. Christen gehen immer von der Neigung des Menschen zum Bösen aus und halten es deswegen für weise, dass kein Einzelner eine zu große Machtfülle erlangt.
Die Gewaltenteilung der Demokratie ist ein Folge der christlichen Sicht, dass alle Menschen zum Bösen neigen und deswegen Herrscher und Politiker nicht gelegentlich ihre Macht zum Bösen gebrauchen, sondern die Wahrscheinlichkeit sehr groß, ja fast zwangsläufig ist, wenn es keine Beschränkungen und Kontrollen gibt. Nicht, dass man Christ sein müsste, um Gewaltenteilung zu befürworten (sonst hätte ich sicher nicht Popper angeführt). Aber geschichtlich gesehen ist dies nun einmal der Ursprung und etwa einer der Gründe, warum islamischen Staaten eine demokratische Gewaltenteilung meist fern liegt, auch wenn sie dort prinzipiell natürlich ebenso praktizierbar ist, da der Islam ein sehr optimistisches Menschenbild hat und das Böse nur im Unglauben und Ungläubigen, nicht aber bei sich selbst sieht.
Wäre der Mensch so gut und edel, wie ihn manche zeichnen, brauchten wir keine parlamentarischen Kontrollen, keine Verfassungsgerichte zur Kontrolle der Regierungen, keine Untersuchungsausschüsse und keine kritische Presse.
Noch einmal: Nicht, dass nur Christen Gewaltenteilung begründen oder umsetzen könnten. Aber wer nur an das Gute im Menschen glaubt, braucht eigentlich keine Gewaltenteilung. Die Demokratie ist die Staatsform, die am nüchternsten und selbstverständlichsten mit dem Bösen rechnet und keinem so viel Macht geben will, dass seine Versuchlichkeit und sein böses Planen und Handeln allein viele oder gar alle in den Abgrund ziehen kann.
Die Finanzmärkte zeigen, was geschieht, wenn der Hang zum Bösen nicht nüchtern einkalkuliert und durch Gewaltenteilung und Kontrolle eingedämmt wird. Ein einziger gieriger Vorstand kann heute die Welt an den Rand des Abgrundes bringen. Es ist erstaunlich, wie wenige Menschen trotz all dem Schrecken, den das verursacht, dies mit der Frage nach der Bosheit des Menschen in Verbindung bringen, schon gar nicht mit der eigenen.
Schreiben Sie einen Kommentar