Auch wenn die Armenierfrage nicht die Bedeutung der Kurdenfrage für die Innenpolitik der Türkei erreicht, spielt sie eine zentrale Rolle für das Selbstverständnis der Türkei. Im Zentrum steht dabei nicht vor allem die von der Bevölkerung ausgehende Diskriminierung der Armenier im Alltag, sondern die Bekämpfung derer, die das Massensterben bei der vermeintlichen Umsiedlung der Armenier im Ersten Weltkrieg als Völkermord bezeichnen wollen. Durch ihr daraus geborenes massives Bekämpfen von Regierungen und Parlamenten zahlreicher Staaten hat die Türkei überhaupt erst die Wissenschaft der Genozidforschung angestoßen. Zusammen mit der Diskriminierung religiöser Minderheiten ist dies zu einem Stolperstein für den EU-Beitritt geworden.
„Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier?“ Mit diesen Worten rechtfertigte Adolf Hitler in seiner zweiten Rede vor den Oberkommandierenden der Wehrmacht auf dem Obersalzberg am 22. August 1939 die wenige Tage später beginnende Auslöschung Polens. Was damals tatsächlich vergessen schien, ist heute Gegenstand einer weltweiten hochpolitischen Wissenschaftskontroverse.
Vor und während des Ersten Weltkrieges wurden ethnische ‚Säuberungen‘ in Deutschland, Frankreich, Russland und anderen europäischen Nationalstaaten vorgedacht. Dabei ging es vor allem um Bevölkerungstausch, das heißt, bestimmte Gebiete sollten bestimmten Ethnien vorbehalten bleiben, die Ethnien auseinandersortiert werden. Aber es war das zerfallende Osmanische Reich, wo solche Ideen erstmals in der Moderne auf eine solche Weise umgesetzt wurden, dass die Umsiedlungen in einem Massensterben endeten.
„Zwischen 1915 und 1917 wurde das älteste christliche Volk [TS: in Kleinasien] fast vollständig vernichtet.“
Noch vor 100 Jahren waren 25% der Bevölkerung Kleinasiens und die Hälfte der Einwohner von Konstantinopel Christen, heute sind of ziell 99% der Einwohner der Türkei Muslime. Die Armenier, die größte christliche Minderheit in der Türkei damals wie heute, schrumpften von ca. 2,1 Mio. auf geschätzte 60.000, also weniger als 0,1% der türkischen Einwohner. Etwa 75% der sich offen als Armenier Zeigenden in der Türkei leben in Istanbul.
Die um 1895 im Osmanischen Reich lebenden ca. 2,1 Mio. Armenier stellten in den sechs armenischen Provinzen des Reiches vor Türken und Kurden mit 38,9% die größte Bevölkerungsgruppe. Pogrome mit jeweils mehreren Tausend Toten hatte es unter den Armeniern schon im 19. Jh. gegeben, etwa 1895/96, was die Auswanderung vieler Armenier bewirkte.
„Über Jahrhunderte hatten die Armenier als christliche Minderheit unter den Muslimen des Osmanischen Reiches gelebt, in Konstantinopel, vor allem aber in sechs ostanatolischen Provinzen auf dem Gebiet der heutigen Türkei. Doch dann erschütterte die Revolution der Jungtürken im Jahr 1908 das Land. Die Generäle Talat Pascha, Enver Pascha und Cemal Pascha übernehmen die Macht. Sie versprechen die Gleichstellung aller Minderheiten, haben aber ganz anderes im Sinn: ein Großreich, in dem nur Türken leben, geeint durch Blut, Religion und Rasse. Der heraufziehende Erste Weltkrieg ebnet ihnen den Weg. Deutschland, damals Kriegsverbündeter, schaut stillschweigend zu: 1,5 Millionen Menschen fallen dem Völkermord in den Jahren 1915 bis 1917 zum Opfer. Bis heute gedenken seiner Armenier auf der ganzen Welt am 24. April. Es war der Auftakt des Genozids.“
Wer zu dieser Thematik schreibt, müsste eigentlich die Vorgeschichte der christlichen Minderheit in der Türkei insbesondere nach Aflösung des Milletsystems im 19. Jh. behandeln, müsste alle christlichen, ja überhaupt alle Minderheiten in der Türkei behandeln und müsste ebenso für die Gegenwart auch die Lage der griechisch-orthodoxen, syrisch-orthodoxen und anderer alteingesessener christlichen Minderheiten beschreiben. Da dies aber in anderen Beiträgen dieses Buches geschieht und der Platz hier beschränkt ist, müssen wir uns auf die Gegenwart und die Armenierfrage beschränken.
Es wäre hier auch angemessen, die aktuellen Forschungsergebnisse zum Völkermord an den Armeniern zusammenzufassen, eine Geschichte der neueren Auseinandersetzung um die Völkermordfrage zu referieren, das Auf und Ab der Armenierdiskriminierung der letzten Jahrzehnte nachzuzeichnen, aber auch zu diskutieren, inwiefern die Regierung Erdoğan in einem Jahrzehnt Fortschritte für die christlichen Minderheiten mit sich gebracht hat und warum der eigentliche Durchbruch trotzdem noch nicht gelungen ist.
iirf_bulletin_2015_4
Schreiben Sie einen Kommentar