Michael Schwartz. Ethnische ‚Säuberungen‘ in der Moderne: Globale Wechselwirkungen nationalistischer und rassistischer Gewaltpolitik im 19. und 20. Jahrhundert: … Darstellungen Zur Zeitgeschichte, Band 95. Oldenbourg Verlag: München, 2013. 697 S. 69,00 €.
Michael Schwartz, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte München-Berlin und Privatdozent für Neuere und Neueste Geschichte an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster hat einen Klassiker zu einem verstörenden Thema geschrieben, dass alle freien Staaten der Erde umtreiben sollte. Völlig zutreffend wird das Buch auf dem Umschlag zusammengefasst:
„Ethnische ‚Säuberungen‘ sind die dunkle Kehrseite unserer modernen Demokratisierung und Nationalstaatsbildung. Bereits im 19. Jahrhundert entwickelten sich der Balkan und die außereuropäischen Kolonien zu Lernorten dieser Form von nationaler Problemlösung. Ab 1914 schlugen diese Gewalttechniken auf Europa zurück. In den beiden Weltkriegen übertraf ihr Vernichtungspotential alle Vorstellungen. Seither prägten sie die Weltentwicklung – von Palästina, Indien/Pakistan bis zu Ruanda, wobei es hier wie früher friedliche Alternativen gegeben hätte. Michael Schwartz beschreibt diese globalen Zusammenhänge und führt die erschütternde Vielfalt ethnischer Gewalttaten in unserer modernen Welt beispielhaft vor. Eindringlicher und engagierter ist diese Problematik noch nie dargestellt worden.“
Unter ‚ethnischer Säuberung‘ versteht man das Entfernen einer ethnischen, nationalen oder religiösen Gruppe aus einem bestimmten Territorium. Dies erfolgt durch gewaltsame Vertreibung, Umsiedlung, Bevölkerungsaustausch, Deportation oder Mord. Der Begriff kam international während der Jugoslawienkriege 1992 als Lehnübersetzung aus dem Serbischen (etničko čišćenje) auf und hat sich im letzten Jahrzehnt weltweit durchgesetzt. Der Begriff bzw. das Wort „Säuberung“ gehört dabei immer in Anführungsstriche gesetzt, da er eine beschönigende Äußerung der Täter darstellt.
Der Begriff bezeichnet natürlich eine Sache, die viel älter ist, denn „Ethnische Säuberung“ ist gewissermaßen der Oberbegriff zu Völkermord (Genozid), der die schlimmste, aber längst nicht die einzige Form der ethnischen ‚Säuberung‘ darstellt. Im vorliegenden Buch bezieht er sich für den Vf. vor allem auf die Absicht, eine ethnische Gruppe aus dem von Tätern beanspruchten Territorium zu vertreiben beziehungsweise zu entfernen.
Opfer ethnischer ‚Säuberungen‘ gehören oft zu einer Partei (etwa ethnischen oder religiösen Gruppe), die ebenso Flügel hat, die Gewalt angewendet hat, ja, als Folge eines geplanten Bevölkerungstausch kann es geschehen, dass die, die in der einen Region Täter und Opfer sind, in der anderen Region umgekehrt Opfer und Täter sind. Auch kann es bei Verschiebung von Machtverhältnissen aus Rache dazu kommen, dass Täter und Opfer die Rolle tauschen.
Die Kernthese des Buches lautet: Ethnische ‚Säuberungen‘ sind ohne die westliche Moderne nicht denkbar, sie sind eng mit der Entstehung der modernen Nationalstaaten und mit dem Nationalismus als Legitimation moderner Statten verbunden (bes. 6). „Dem Historiker Michael Schwartz zufolge sind Deportationen und die Vertreibung von Volksgruppen die dunkle Seite der Bildung der Nationalstaaten – bis heute. In seinem neuen Buch gelingt es ihm, diese These in einen weltweiten Kontext zu stellen“ (Ernst Piper, DeutschlandRadio). „Ethnische ‚Säuberungen‘ sind die Signatur der Moderne, sie sind, wie Michael Schwartz schreibt, die dunkle Seite der Demokratisierung und der Bildung der Nationalstaaten: ‚Die Entstehung ethnisch homogener Staaten war keine natürliche und schon gar keine friedliche Entwicklung, sondern ein gewalttätiger und noch heute nicht abgeschlossener Prozess‘“ (dito).
Sicher gab es ethnische ‚Säuberungen‘ – so Schwartz – vorher schon (7), vor allem beginnend mit der Ausweisung der Muslime aus Spanien im 17. Jh., als ethnische ‚Säuberungen‘ allmählich religiöse ‚Säuberungen‘ abzulösen begannen. Aber das heutige Europa existiert nach Schwartz eigentlich erst seit den serbischen und griechischen Aufständen von 1804 und 1821, als der moderne Nationalismus von West- und Mitteleuropa auf Osteuropa übersprang (6). Nach Schwartz findet hier der endgültige Übergang von der religiösen zur ethnischen ‚Säuberung‘ (9) statt. Hieß es 1555 „Cuius regio eius religio“, heißt es ab dem 19. Jahrhundert gewissermaßen „Cuius regio eius natio“. Wurde 1555 festgelegt, dass die, die falsche religiöse Zugehörigkeit haben, auswandern müssen – wenn nicht Schlimmeres –, so gilt dies jetzt für die falsche ethnische Zugehörigkeit.
Schon nach Edward H. Carr (1945) sind ethnische ‚Säuberungen‘ eine Folge der französischen Revolution von 1789, als massenhaft ‚Opferung‘ von Menschen für den Götzen „Nationalismus“ in Kauf genommen wurden. Genozid und ethnische ‚Säuberungen‘ sind also nicht ohne den modernen Verwaltungsstaat zu denken. Dies hat vor allem Zygmunt Bauman vertreten, für den vor allem der Holocaust nicht ohne die moderne Industriegesellschaft und ihre Bürokratien denkbar gewesen wäre, in denen gesetzliche und autoritative Vorgaben und die Zerlegung von Vorgängen in einzelne, zweckrational zu optimierende Vorgänge, Dinge technisch und moralisch ermöglicht haben, deren Gesamtbild die Beteiligten eigentlich abgeschreckt hätte. Vor allem macht er die Bürokratisierung moderner Staaten verantwortlich. Damit war der Holocaust nicht Ergebnis unkontrollierter Gefühle, sondern der Rationalität des modernen Staates. (Zygmunt Bauman. Dialektik der Ordnung: die Moderne und der Holocaust. Europäische Verlags-Anstalt: Hamburg, 2002).
Schwartz liefert für diese weit über Genozide hinaus reichende Sicht viele Belege und Beispiele. Ethnische ‚Säuberungen‘ sind deswegen Teil der Moderne und damit auch Teil der Demokratiegeschichte und können nicht einfach Diktatoren zugeordnet werden. „Zu Recht betont er beispielsweise, dass der umfangreiche Bevölkerungsaustausch zwischen Griechenland und der Türkei, wie er 1923 im Vertrag von Lausanne geregelt wurde, nicht zuletzt ein Werk zweier demokratischer Staaten war, Frankreichs und Großbritanniens. Und dass Churchill wie Roosevelt ihre Handlungsoptionen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs im Wesentlichen aus der Erfahrungswelt von Lausanne bezogen. Insofern bildeten die ethnischen ‚Säuberungen‘ tatsächlich nicht nur eine dunkle Seite der Moderne, sondern auch die Schattenseite der Demokratie, wie es der amerikanische Soziologe Michael Mann einmal formuliert hat“ (Carsten Kretschmann, FAZ).
Schwartz behandelt koloniale Genozide um 1900 in Südwestafrika, indische Massaker 1947 und den Nahostkonflikt unserer Tage, um nur ein paar Beispiele zu nennen, die erahnen lassen, dass Vollständigkeit für sein Thema nicht zu erreichen ist, selbst wenn der Begriff genauer zu spezifizieren und fest einzugrenzen wäre.
Was Schwartz aber nicht nur kurz als Beispiel erwähnt, sondern genauer aufgreift, stellt er gründlich dar. Und das, wo doch jede ethnische ‚Säuberung‘ eigentlich ihre ganz eigene Forscherdebatte hat, so etwa die Frage nach dem Armeniergenozid oder die Frage, ob die Vertreibung der Deutschen aus Osteuropa 1945 darunter fällt (so Schwartz) oder eine ‚humane‘ und legal beschlossene Umsiedlung war (so die einstigen sozialistischen Staaten).
„In der Regel setzt Schwartz jedoch geschickt einzelne Akzente. Das gilt zum einen für die ‚frühen Lernorte‘, vor allem auf dem Balkan, wo seit dem frühen 19. Jahrhundert Nationalisierung und ethnische ‚Säuberung‘ unheilvoll Hand in Hand gingen. Zum anderen gilt dies für den Ersten Weltkrieg, in dessen Gefolge nicht nur die koloniale Gewalt ‚nach Hause‘ zurückkehrte, sondern gleich mehrere Volksgruppen zu Opfern von Willkür und Gewalt wurden: Armenier (‚genozidale Deportation‘) ebenso wie Griechen (‚Deportation ohne Genozid‘) und Juden (‚verhinderte Deportation‘). Vor allem aber gilt dies für die rassistische Vertreibungs- und Umsiedlungspolitik des nationalsozialistischen Regimes, in besonderer Weise für den Judenmord“ (Carsten Kretschmann, FAZ).
Schwartz behandelt „‚Säubernde‘ Siedler-Demokratien“ in Amerika und Australien im 19. Jh. (189-202); Genozide und Deportationen in den Kolonien um 1900, beispielsweise in Südwestafrika und auf den Philippinen (202-219) und beim Überschwappen in Kolonien innerhalb von Europa (220-235). Es folgt die „Nationale Befreiung durch Vertreibung“ von Muslimen im 19. Jahrhundert: Serbien, Griechenland, Bulgarien (238-261); alternative Projekte von Intervention und Koexistenz in Bosnien, Herzegovina, Kroatien und Mazedonien (261-297) und die Kulminierung in den Balkankriegen 1912/13 (298-309): 1912 waren die Opfer vor allem Muslime, 1913 vor allem Christen.
Alle Kriegsparteien im 1. Weltkrieg spielten zumindest mit dem Gedanken ethnischer ‚Säuberungen‘, sei es als ‚geordneter Bevölkerungstausch‘ (309-318), sei es als Vertreibung. Der Höhepunkt im 1. Weltkrieg war der Genozid an den Armeniern (61-98) und an den osmanischen Griechen (98-114). „Das Konzept ethnischer ‚Säuberung‘ im intellektuellen Diskurs des Ersten Weltkrieges war kein Alleinbesitz einer Kriegspartei. Zwischen 1914 und 1919 eskalierte es vielmehr auf allen Seiten der Front. Es faszinierte Intellektuelle und Wissenschaftler, die eine Nachkriegszukunft mit ‚sauber‘ getrennten Nationen zu organisieren gedachten und damit Frieden, zuweilen sogar Humanität zu gewährleisten hofften“ (60).
„Im Ersten Weltkrieg kam es zu Bevölkerungsverschiebungen bis dahin unvorstellbaren Ausmaßes. Allein das zaristische Russland deportierte etwa 700.000 Volksdeutsche und bis zu einer Million Juden aus seinen westlichen Provinzen nach Osten. Das schlimmste Beispiel solcher Exzesse war sicherlich die Ermordung der Armenier durch die Türken“ (Carsten Kretschmann, FAZ).
In der Zwischenkriegszeit 1919-1939 gab es nach Schwartz drei Modelle (319-424), um ethnische Konflikte zu lösen, das Modell von Versailles mit Minderheitenschutz von 1919, das sich kaum durchsetzte, das Moskauer Modell von 1929 mit Föderalismus und Autonomie und schließlich das Modell des Vertrags von Lausanne, die gewaltsame Trennung von ethnischen Gruppen, als Bevölkerungstausch friedlich geplant, in der Realität aber in ethnischen ‚Säuberungen‘ endend.
Der Vertrag von Lausanne 1923 trennte etwa „Türken“ und „Griechen“ (396-424), wobei durch die Zwangsumsiedlung von 2 Mio. Menschen aus zwei Imperien zwei Nationalstatten wurden. 1918 bis 1925 wanderten 1,38 Mio., die Hälfte der in Polen lebenden Deutschen, in das verkleinerte Deutsche Reich ein.
Natürlich wird das Dritte Reich und der Holocaust dargestellt (425-466), aber auch Umsiedlungsverträge im 2. Weltkrieg überhaupt (467-491). Die Transferplanungen der Anti-Hitler-Koalition schließen sich an (492-519). Stalins Strafkationen folgten zunächst klassenkämpferischen Parolen, wurden dann zunehmend zu ethnischen ‚Säuberungen‘ (519-532). Sehr gut ist die Darstellung von Fluchtbewegungen im 2. Weltkrieg und der Vertreibung nach dem 2. Weltkrieg mit insgesamt 2 Mio. Toten (532-564) und der 1946-1950 beschlossene Zwangsumsiedlungen (564-578). 31 Mio. Menschen in Ostmitteleuropa wurden 1944-1948 Opfer von Zwangsmigrationspolitik (579). Parallel waren 30 Mio. Opfer im Rahmen der Entkolonialisierung betroffen, davon 4 Mio. Tote (579-580).
Ausführlich diskutiert Schwartz die beiden größten Fälle ethnischer ‚Säuberungen‘ nach 1945 mit jeweils Millionen Opfer: die Vertreibung der Deutschen aus Ostmitteleuropa (564-578) und den Bevölkerungstausch und die Vertreibungen auf dem indischen Subkontinent (580-599), als 1947 die britische Kolonie in zwei Staaten zerfiel. Die Zahl der Opfer dabei ist schwer zu schätzen, Schwartz kommt auf 17,5 Mio. Opfer, davon 200.000-600.000 Todesopfer (580-599). Als letztes stellt Schwartz die Lage in Israel und Palästina seit 1947 dar (600-621).
Es ist aus meiner Sicht sehr bedauerlich, dass das Buch um etwa 1950 endet – von kurzen Ausblicken für Palästina und den indischen Subkontinent abgesehen. Wie ging es nach 1950 weiter? Was geschah im namensgebenden Serbien? Wie verhält sich die These von der Moderne als Voraussetzung für die ethnischen ‚Säuberungen‘ zu den ‚Säuberungen‘ im Afrika (z. B. Sudan) oder im Nahen Osten (z. B. Türkei und Kurden, IS in Syrien und Irak). Man kann nur hoffen, dass der Verfasser dies in einem Folgeband nachholt und damit die Debatte tagesaktuell macht!
Nicht immer, aber öfter und vor allem zu Beginn wurden Umsiedlungen oder Bevölkerungstausch als zivile und sinnvolle Mittel geplant. Aber praktisch ausnahmslos glitten sie langsam oder schneller in gewalttätige Konflikte über, so etwa am Ende der britischen Kolonialzeit in Indien, wo theoretisch friedlich allen Muslimen freigestellt war, nach Pakistan umzusiedeln, den dortigen Hindus ebenso Pakistan zu verlassen. Doch während sich die Ströme der Umsiedler aneinander vorbei schoben, heizte sich die Stimmung immer weiter auf und es kam zu unglaublichem Blutvergießen.
Der Vertrag von Konstantinopel zwischen Bulgarien und dem Osmanischen Reich vom September 1913 gilt als der erste Friedensvertrag, der einen geplanten Bevölkerungsaustausch zwischen den Vertragspartnern mit dem Ziel einer ethnischen Entzerrung vorsah. Die beiden vorangegangenen Balkankriege (1912/1913) waren von starker ethnisch begründeter Gewalt bedroht, durch die Zivilisten auf beiden Seiten ermordet und vertrieben wurden. Durch den Friedensvertrag hoffte man, dass Problem lösen zu können, indem man die beteiligten Ethnien geografisch trennte.
Gute, oben zitierte Rezensionen sind:
- Carsten Kretschmann. „Logik des Barbarischen: Ethnische ‚Säuberungen‘ im 19. und 20. Jahrhundert“. FAZ vom 27.1.2014.
- Ernst Piper. „Staatenbildung als Gewaltakt: Michael Schwartz: ‚Ethnische ‚Säuberungen‘ in der Moderne‘.“ DeutschlandRadio Kultur 20.05.2013.
2 Kommentare
Müsste die These nicht eher lauten, dass ethnische Säuberungen in der Moderne/Demokratie moderner Prägung angelegt, dh deren Implikat sind? Dann wären eher ethnische Säuberungen Voraussetzung für (das Funktionieren der) Moderne. Oder Moderne als hinreichende Bedingung für ethnische Säuberungen, aber nicht notwendige – neben den angesprochenen außermodernen Beispielen fällt mir da noch die neuassyrische Imperialpolitik ein, wie sie an Nordisrael exemplarisch deutlich wird: nicht unmittelbare physische Ausrottung, sondern kulturelle und institutionelle durch Bevölkerungsaustausch.
Interessant fände ich die politphilosophische Frage, welche Anlagen der Moderne/Demokratie (aber auch anderer PHilosophien/Weltanschauungen) denn nun dafür verantwortlich sind und wie zentral diese Anlagen für die jeweilige Philosophie sind – also gewissermaßen eine systematische Auswertung der historischen Deskription und Analyse.
Ich habe ja zunächst einmal nur referiert, was Schwartz vertritt und kurz auf mein Referat einiger anderer Autoren in meiner Arbeit „Hitlers Kriegsreligion“ verwiesen. Aber tatsächlich müsste das Ganze einmal systematisch aufgearbeitet werden. Dabei kommt man nur leicht in den Verdacht, man wäre gegen Demokratie oder gegen die Moderne, das dürfte der Grund sein, warum sich kaum einer dieser Fragestellung zuwendet. Aber es ist sehr wichtig, der Frage nachzugehen, ob und wenn, wie Demokratie/Moderne von der Begeilterscheinung ethnischer Säuberungen und verwandter Phänomene befreit werden kann. So aber bleibt man lieber bei dem guten moralischen dass Demokratie und Moderen doch eigentlich anders können, das das Gute hervor zu bringen.