Warum Bibeltreue keine Fundamentalisten sind und warum die Chicagoerklärung nicht unfehlbar ist

Interview von Bonner Querschnitte mit Thomas Schirrmacher aus Anlass des Erscheinens seines Buches „Koran und Bibel

In dem neuesten Band ‚Koran und Bibel‘ der Reihe ‚kurz + bündig‘ des Hänssler Verlages vergleicht der evangelikale Theologe und Religionssoziologe Thomas Schirrmacher das ‚Wort Gottes‘-Verstän­dnis der beiden größten Weltreligionen und schlägt damit auch international einen ganz neuen Weg der Gegenüberstellung von Islam und Christentum ein. Eines seiner Anliegen ist es dabei zu zeigen, warum das islamische Verständnis eines göttlichen Buches fundamentalistisch sein muss, während ein wirklich bibeltreues Schriftverständnis den Menschen selbstkritisch macht und auf die Beziehung zu Jesus Christus hin orientiert.

Cover Koran und BibelBQ: Professor Schirrmacher, den Inhalt von Koran und Bibel zu vergleichen, ist sicher interessant, aber sich dabei nur auf ihr Selbstverständnis als ‚Gottes Wort‘ zu beschränken – ist das sinnvoll?

Thomas Schirrmacher: Nun, es hat viel mit der Fundamentalismusdebatte zu tun. Evangelikalen, die die Bibel für zuverlässig halten, wird oft vorgeworfen, sie hätten dasselbe fundamentalistische Schriftverständnis wie Muslime. Das ist einfach nicht wahr. Die wissenschaftliche Arbeit am Bibeltext geht etwa auf die Kirchenväter zurück, wurde von den Reformatoren zugrunde gelegt und der pietistische Vater Johann Albrecht Bengel hat eine wichtige textkritische Ausgabe des Neuen Testamentes vorgelegt. Etwas Entsprechendes gibt es bei frommen Muslimen bis heute nicht, weil der Koran gar nicht als menschlicher Text gilt.

Vergleicht man die beiden größten Weltreligionen, in denen ein einzelnes Buch als Heilige Schrift und ‚Gottes Wort‘ eine zentrale Rolle spielt, zeigt sich, dass das Verständnis ihres jeweiligen Buches unterschiedlicher kaum sein könnte. ‚Wort Gottes‘ ist hier überhaupt nicht gleich ‚Wort Gottes‘. Oder anders gesagt: Der fundamentale Unterschied von Christentum und Islam kann allein schon am jeweils traditionellen Verständnis ihrer heiligen Bücher und an deren Selbstverständnis aufgezeigt werden.

Können sie ein Beispiel nennen?

Der Koran war aus islamischer Sicht als ewige „Mutterschrift“ im Himmel immer schon fertig und wurde nur offenbart. Deswegen ist er allein Gottes Wort und hat keine menschliche und irdische Entstehungsgeschichte und keinen menschlichen Autor. Die Bibel dagegen entstand aus christlicher Sicht historisch in Jahrtausenden und wurde von vielen Menschen geschrieben. Sie ist nicht deswegen Gottes Wort, weil keine Menschen an ihr beteiligt waren, sondern weil Gottes Geist diese Menschen mit ihren ganz unterschiedlichen Persönlichkeiten inspiriert hat.

Ist das nicht eine moderne Sicht?

Nein, schon der Kirchenvater Clemens von Alexandrien oder die gesamte frühe Theologie seit Origenes legte größten Wert darauf, dass der Heilige Geist die Persönlichkeit der Autoren nicht ausgeschaltet, sondern eingeschaltet habe und wir in der Bibel die typische Sprache eines Mose, David oder Paulus vor uns haben. Schon lange vor Mohammed verstanden Christen unter ‚Wort Gottes‘ in Bezug auf die Bibel etwas völlig anderes als Muslime, wenn sie den ‚Koran‘ als Wort Gottes bezeichneten.

Aber ist denn Jesus nicht sowieso wichtiger als die Bibel?

Ja, sicher. Im Mittelpunkt des Islam steht unter Gott der Koran, also ein Buch, weil es aus der Ewigkeit in die Welt gesandt wurde. Im Mittelpunkt des Christentums steht neben Gott Jesus Christus, also eine Person, weil sie aus der Ewigkeit in die Welt gesandt wurde. Im Islam steht der Religionsstifter Muhammad unter der Heiligen Schrift. Er erhält seine Bedeutung von der Schrift, da er ihr Empfänger und Verkündiger ist. Im Christentum steht der Religionsstifter Jesus über der Heiligen Schrift. Sie erhält ihre Bedeutung von ihm. Jesus ist das eigentliche „Wort Gottes“, die Schrift legt als „Wort Gottes“ von ihm Zeugnis ab. Nur ist das ja nichts Neues, das haben alle Christen seit 2000 Jahren so gesehen, und auch Evangelikale sehen das nicht anders.

Sind Evangelikale Fundamentalisten?

Also zunächst einmal: Fundamentalisten sind immer die anderen! Mit solch emotionalen Totschlagwörtern ist nur schwer umzugehen und seriöse Menschen sollten sie entweder meiden oder vorher klar definieren. Zudem: Man kann mit jeder Weltanschauung Fundamentalist sein, auch etwa mit einer grünen Ideologie. Also ist immer erst einmal die Frage, was man darunter versteht. Versteht man unter Fundamentalist, dass man seine eigene Sicht mit Gewalt und Zwang durchsetzen will, dann stehen Evangelikale dem Fundamentalismus bestimmt konträr gegenüber, oder haben Sie schon einmal Angst vor einem evangelikalen Selbstmordattentäter gehabt oder befürchtet, ein Evangelikaler könnte Sie um ihren Arbeitsplatz bringen? Versteht man unter Fundamentalismus wie in der Religionswissenschaft üblich den Wunsch, den ursprünglichen Zustand der eigenen Religion wiederherzustellen – also etwa die Zeit Mohammeds oder der Urgemeinde –, so gilt das im christlichen Bereich nur für kleine Gruppen, die zudem gerade deswegen meist pazifistisch sind. Die Masse der Evangelikalen und Bibeltreuen wollen jedenfalls nicht den Zustand des 1. Jahrhunderts wieder herstellen – dazu ist etwa ihr Gottesdienststil alleine schon viel zu modern.

Der baptistische Theologieprofessor Strübind hat den ‚Bibeltreuen‘ kürzlich vorgeworfen, sie vergewaltigten den Verstand und seien dialogunfähig.

Der Verstand ist ein herausragendes Beispiel für unsere Ebenbildlichkeit Gottes und war schon für die Kirchenväter ein wichtiges Werkzeug für das Studium der Bibel. Bis heute halten sehr intelligente Leute die Bibel für zuverlässig. Prof. Strübind hat wohl die Falschen getroffen.

Wir hatten auf dem Kirchentag eine große Diskussion zur Bibelfrage. Es ging kontrovers zu, aber ich wurde fair behandelt und alle Beteiligten arbeiteten auf eine Verständigung hin. Ich bin international an solchen Gesprächen beteiligt, etwa beim Weltkirchenrat oder orthodoxen Patriarchaten. Das sind fruchtbare Gespräche für beide Seiten. Dialogunfähigkeit und fehlende Dialogbereitschaft – wie sie Strübind selbst ja massiv an den Tag legt – gibt es bei Theologen und Menschen aller Richtungen, aber ich kann nicht erkennen, dass dies bei Evangelikalen oder Bibeltreuen wirklich sehr viel häufiger vorkommt, als bei anderen.

Sie haben vor Jahren die deutsche Ausgabe der Chicagoerklärung ediert. Ist die Chicagoerklärung unfehlbar?

Natürlich nicht. Die Chicagoerklärung war ein Versuch evangelikaler Theologieprofessoren in den USA, sich einerseits gegen einen kritischen Umgang mit der Bibel abzusetzen, andererseits aber auch gegenüber Christen, die den wissenschaftlichen Umgang mit der Bibel grundsätzlich verneinen – letzteres wird von ihren Gegnern oft geflissentlich übergangen, obwohl es erhebliche Teile der Thesen bestimmt. Und 25 Jahre später ist aus der internationalen Diskussion klar geworden, dass man heute manches besser machen würde.

Können sie uns ein Beispiel dafür nennen?

Ja. Man hat etwa typisch amerikanisch die ganze Bibelfrage völlig losgelöst von der restlichen Dogmatik diskutiert, so dass etwa davon, dass Jesus das erste und wichtigste Wort Gottes ist, nirgends die Rede ist. Auch die bibeltreue europäische Theologie ist da immer anders vorgegangen. Gott offenbart sich in Jesus Christus und die Bibel ist das Buch, das ihn ankündigt, ihn bezeugt und das Heil in Christus verkündigt.

Ich habe gerade in meinem neuen Buch thematisiert, dass im Islam der Religionsstifter unter dem heiligen Buch steht und von diesem autorisiert wird, während im Christentum der Stifter über dem heiligen Buch steht und das Buch von ihm autorisiert wird. Das stand 1978 in den USA nicht zur Debatte und wurde aber damals gleichwohl von allen Beteiligten geteilt, aber leider eben nicht gesagt.

Wie sind Sie den zu dem Thema ihres neuen Buches gekommen?

Ich bin seit vielen Jahren an der Diskussion um das richtige Verständnis der Heiligen Schrift beteiligt, als selbstkritischer Vertreter einer evangelikalen Sicht. Ich bin im Gespräch mit Muslimen und Menschen in islamischen Ländern und für die Weltweite Evangelische Allianz engagiert. Wir haben zudem eines unserer Studienzentren in der Türkei, wo ich regelmäßig unterrichte und mit orientalischen Kirchen im Gespräch bin. Ich bin Religionswissenschaftler und mit einer kompetenten Islamwissenschaftlerin verheiratet. All das legte nahe, einmal den Versuch zu wagen, diese Themen und Arbeitsbereiche zu verbinden und das ‚Wort-Gottes-Verständnis‘ von Islam und Christentum miteinander zu vergleichen. Das erste Mal habe ich das in einer Vorlesung in der Türkei getan.

Wir danken Ihnen für das Interview!

 

Schreiben Sie einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert